Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Neuere Staatsverfassung. Parliament.

84. Das heutige England krankt an seiner übelgelun-
genen Kirchenverbesserung, seinen Armenlasten, seiner Staats-
schuld, an den Veraltungen seiner Gesetzgebung im Privat-
und Strafrecht, seiner Colonial-Größe, seinem Irland;
allein seine Verfassungs-Organe waren nie gereinigter als
jetzt und sie haben die Frische ihrer Kraft bereits durch
erfolgreiche Angriffe auf mehrere dieser Übel bethätigt. Das
Englische Parlament hat sein inneres Gleichgewicht gefun-
den, und einem klaren Verhältnisse desselben zum Königthum,
welches der Lehnsstaat des aggregirenden Mittelalters nicht
recht aufkommen läßt, steht länger nichts im Wege. Der
Schritt des Überganges zum mehr einheitlichen Staatswe-
sen, wohin die Gegenwart drängt, ist gethan und eine
Reihe von tief in die Verwaltung eingreifenden Umbildun-
gen kündet sich unabwendbar an, welche, wenn es über-
haupt damit gelingt, keineswegs, wie befürchtet wird,
der königlichen Macht Abnahme droht, wol aber mancher
Körperschaft die Auflösung ihrer Selbstständigkeit und
dem ganzen Gemeinde-Leben eine andere Stellung gegen
die Regierung verkündigt. Das altständische Mitregieren
und Mitverwalten, welches die ständische Krankheit des
Mittelalters ist, findet keine Stätte mehr; die Übereinstim-
mung beider Kammern wird sich der Regierung gegenüber
zu einer der Hauptsache nach moralischen Macht gestalten,
die nur in dem Falle unwiderstehlich ist, wenn sie von
dem Beifalle des aufmerksamen Volks unterstützt wird.
Das Parlament nannte sich von jeher nur allmächtig in-
sofern der König einen Theil desselben ausmachte und alle
drei Zweige der Gesetzgebung zusammenstimmten; aber es
wird von nun an mehr als je noch einer vierten Zustim-
mung aufhorchen. Wohl lag es in dem ganzen Bildungs-
gange der neueren Völker, daß der Staat lange Zeit un-

Neuere Staatsverfaſſung. Parliament.

84. Das heutige England krankt an ſeiner uͤbelgelun-
genen Kirchenverbeſſerung, ſeinen Armenlaſten, ſeiner Staats-
ſchuld, an den Veraltungen ſeiner Geſetzgebung im Privat-
und Strafrecht, ſeiner Colonial-Groͤße, ſeinem Irland;
allein ſeine Verfaſſungs-Organe waren nie gereinigter als
jetzt und ſie haben die Friſche ihrer Kraft bereits durch
erfolgreiche Angriffe auf mehrere dieſer Übel bethaͤtigt. Das
Engliſche Parlament hat ſein inneres Gleichgewicht gefun-
den, und einem klaren Verhaͤltniſſe deſſelben zum Koͤnigthum,
welches der Lehnsſtaat des aggregirenden Mittelalters nicht
recht aufkommen laͤßt, ſteht laͤnger nichts im Wege. Der
Schritt des Überganges zum mehr einheitlichen Staatswe-
ſen, wohin die Gegenwart draͤngt, iſt gethan und eine
Reihe von tief in die Verwaltung eingreifenden Umbildun-
gen kuͤndet ſich unabwendbar an, welche, wenn es uͤber-
haupt damit gelingt, keineswegs, wie befuͤrchtet wird,
der koͤniglichen Macht Abnahme droht, wol aber mancher
Koͤrperſchaft die Aufloͤſung ihrer Selbſtſtaͤndigkeit und
dem ganzen Gemeinde-Leben eine andere Stellung gegen
die Regierung verkuͤndigt. Das altſtaͤndiſche Mitregieren
und Mitverwalten, welches die ſtaͤndiſche Krankheit des
Mittelalters iſt, findet keine Staͤtte mehr; die Übereinſtim-
mung beider Kammern wird ſich der Regierung gegenuͤber
zu einer der Hauptſache nach moraliſchen Macht geſtalten,
die nur in dem Falle unwiderſtehlich iſt, wenn ſie von
dem Beifalle des aufmerkſamen Volks unterſtuͤtzt wird.
Das Parlament nannte ſich von jeher nur allmaͤchtig in-
ſofern der Koͤnig einen Theil deſſelben ausmachte und alle
drei Zweige der Geſetzgebung zuſammenſtimmten; aber es
wird von nun an mehr als je noch einer vierten Zuſtim-
mung aufhorchen. Wohl lag es in dem ganzen Bildungs-
gange der neueren Voͤlker, daß der Staat lange Zeit un-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0081" n="69"/>
              <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuere Staatsverfa&#x017F;&#x017F;ung. Parliament</hi>.</fw><lb/>
              <p>84. Das heutige England krankt an &#x017F;einer u&#x0364;belgelun-<lb/>
genen Kirchenverbe&#x017F;&#x017F;erung, &#x017F;einen Armenla&#x017F;ten, &#x017F;einer Staats-<lb/>
&#x017F;chuld, an den Veraltungen &#x017F;einer Ge&#x017F;etzgebung im Privat-<lb/>
und Strafrecht, &#x017F;einer Colonial-Gro&#x0364;ße, &#x017F;einem Irland;<lb/>
allein &#x017F;eine Verfa&#x017F;&#x017F;ungs-Organe waren nie gereinigter als<lb/>
jetzt und &#x017F;ie haben die Fri&#x017F;che ihrer Kraft bereits durch<lb/>
erfolgreiche Angriffe auf mehrere die&#x017F;er Übel betha&#x0364;tigt. Das<lb/>
Engli&#x017F;che Parlament hat &#x017F;ein inneres Gleichgewicht gefun-<lb/>
den, und einem klaren Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e de&#x017F;&#x017F;elben zum Ko&#x0364;nigthum,<lb/>
welches der Lehns&#x017F;taat des aggregirenden Mittelalters nicht<lb/>
recht aufkommen la&#x0364;ßt, &#x017F;teht la&#x0364;nger nichts im Wege. Der<lb/>
Schritt des Überganges zum mehr einheitlichen Staatswe-<lb/>
&#x017F;en, wohin die Gegenwart dra&#x0364;ngt, i&#x017F;t gethan und eine<lb/>
Reihe von tief in die Verwaltung eingreifenden Umbildun-<lb/>
gen ku&#x0364;ndet &#x017F;ich unabwendbar an, welche, wenn es u&#x0364;ber-<lb/>
haupt damit gelingt, keineswegs, wie befu&#x0364;rchtet wird,<lb/>
der ko&#x0364;niglichen Macht Abnahme droht, wol aber mancher<lb/>
Ko&#x0364;rper&#x017F;chaft die Auflo&#x0364;&#x017F;ung ihrer Selb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit und<lb/>
dem ganzen Gemeinde-Leben eine andere Stellung gegen<lb/>
die Regierung verku&#x0364;ndigt. Das alt&#x017F;ta&#x0364;ndi&#x017F;che Mitregieren<lb/>
und Mitverwalten, welches die &#x017F;ta&#x0364;ndi&#x017F;che Krankheit des<lb/>
Mittelalters i&#x017F;t, findet keine Sta&#x0364;tte mehr; die Überein&#x017F;tim-<lb/>
mung beider Kammern wird &#x017F;ich der Regierung gegenu&#x0364;ber<lb/>
zu einer der Haupt&#x017F;ache nach morali&#x017F;chen Macht ge&#x017F;talten,<lb/>
die nur in dem Falle unwider&#x017F;tehlich i&#x017F;t, wenn &#x017F;ie von<lb/>
dem Beifalle des aufmerk&#x017F;amen Volks unter&#x017F;tu&#x0364;tzt wird.<lb/>
Das Parlament nannte &#x017F;ich von jeher nur allma&#x0364;chtig in-<lb/>
&#x017F;ofern der Ko&#x0364;nig einen Theil de&#x017F;&#x017F;elben ausmachte und alle<lb/>
drei Zweige der Ge&#x017F;etzgebung zu&#x017F;ammen&#x017F;timmten; aber es<lb/>
wird von nun an mehr als je noch einer vierten Zu&#x017F;tim-<lb/>
mung aufhorchen. Wohl lag es in dem ganzen Bildungs-<lb/>
gange der neueren Vo&#x0364;lker, daß der Staat lange Zeit un-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0081] Neuere Staatsverfaſſung. Parliament. 84. Das heutige England krankt an ſeiner uͤbelgelun- genen Kirchenverbeſſerung, ſeinen Armenlaſten, ſeiner Staats- ſchuld, an den Veraltungen ſeiner Geſetzgebung im Privat- und Strafrecht, ſeiner Colonial-Groͤße, ſeinem Irland; allein ſeine Verfaſſungs-Organe waren nie gereinigter als jetzt und ſie haben die Friſche ihrer Kraft bereits durch erfolgreiche Angriffe auf mehrere dieſer Übel bethaͤtigt. Das Engliſche Parlament hat ſein inneres Gleichgewicht gefun- den, und einem klaren Verhaͤltniſſe deſſelben zum Koͤnigthum, welches der Lehnsſtaat des aggregirenden Mittelalters nicht recht aufkommen laͤßt, ſteht laͤnger nichts im Wege. Der Schritt des Überganges zum mehr einheitlichen Staatswe- ſen, wohin die Gegenwart draͤngt, iſt gethan und eine Reihe von tief in die Verwaltung eingreifenden Umbildun- gen kuͤndet ſich unabwendbar an, welche, wenn es uͤber- haupt damit gelingt, keineswegs, wie befuͤrchtet wird, der koͤniglichen Macht Abnahme droht, wol aber mancher Koͤrperſchaft die Aufloͤſung ihrer Selbſtſtaͤndigkeit und dem ganzen Gemeinde-Leben eine andere Stellung gegen die Regierung verkuͤndigt. Das altſtaͤndiſche Mitregieren und Mitverwalten, welches die ſtaͤndiſche Krankheit des Mittelalters iſt, findet keine Staͤtte mehr; die Übereinſtim- mung beider Kammern wird ſich der Regierung gegenuͤber zu einer der Hauptſache nach moraliſchen Macht geſtalten, die nur in dem Falle unwiderſtehlich iſt, wenn ſie von dem Beifalle des aufmerkſamen Volks unterſtuͤtzt wird. Das Parlament nannte ſich von jeher nur allmaͤchtig in- ſofern der Koͤnig einen Theil deſſelben ausmachte und alle drei Zweige der Geſetzgebung zuſammenſtimmten; aber es wird von nun an mehr als je noch einer vierten Zuſtim- mung aufhorchen. Wohl lag es in dem ganzen Bildungs- gange der neueren Voͤlker, daß der Staat lange Zeit un-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/81
Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/81>, abgerufen am 24.11.2024.