Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Drittes Capitel.

Dergestalt blieb, nachdem das Lehnswesen seine Be-
deutung in der Verfassung verloren hatte, weil der Kriegs-
dienst vom Lehn aufhörte, und nachdem Karl II. alle Lehen
in freie Erbzinsgüter verwandelt hatte, über die durch
Testament verfügt werden durfte, die Pärie als eine rein
politische Institution übrig, als ein lebendiger Zweig der
Staatsgewalt, die Fortdauer ihres erblichen Vorrechts
stützend auf einem ungeheuren unveräußerlichen Grundver-
mögen, dem Ganzen zum Nutzen, keinem Stande zu Leide,
auch kein Selbstgefühl des Bürgerlichen verletzend, weil
die jüngeren Söhne der Lords dem Bürger-Stande an-
gehören, und die Geburt der Mutter eines Lords rechtlich
gleichgültig ist.

75. Wie viel es aber für die Staatsverfassung und
den Volksfrieden bedeute, daß die Geburtsaristokratie ihre
rechte und versöhnende Stelle im Staate finde, ergiebt
sich vollends unwiderleglich, wenn man die Geschichte an-
derer Staaten, in welcher die Ausbildung des Adels einen
abweichenden Weg nahm, in die Vergleichung zieht.

Der Kampf, den in England manche Könige gegen
die Kronvasallen unternahmen, scheiterte dort an dem Zu-
sammenhange ihres Widerstandes und dem rein bewahrten
Grundcharakter des Lehnwesens. Die französische
Krone machte ihre Angriffe im Einzelnen, untergrub das
Princip und kam zum Ziele. Schon die Kreuzzüge wur-
den zu diesem Zwecke benutzt; man gestattete dem Adel
Güter-Verkäufe zum heiligen Werke. Mehr that das
Eindringen Römischer Rechtsgrundsätze, die Zersplitterung
des Grundeigenthums begünstigend. Im Süden des Rei-
ches, wo das Justinianeische Recht vorwog (pays du droit
ecrit
), theilte man früh die Lehne nach Köpfen; im Norden,

Drittes Capitel.

Dergeſtalt blieb, nachdem das Lehnsweſen ſeine Be-
deutung in der Verfaſſung verloren hatte, weil der Kriegs-
dienſt vom Lehn aufhoͤrte, und nachdem Karl II. alle Lehen
in freie Erbzinsguͤter verwandelt hatte, uͤber die durch
Teſtament verfuͤgt werden durfte, die Paͤrie als eine rein
politiſche Inſtitution uͤbrig, als ein lebendiger Zweig der
Staatsgewalt, die Fortdauer ihres erblichen Vorrechts
ſtuͤtzend auf einem ungeheuren unveraͤußerlichen Grundver-
moͤgen, dem Ganzen zum Nutzen, keinem Stande zu Leide,
auch kein Selbſtgefuͤhl des Buͤrgerlichen verletzend, weil
die juͤngeren Soͤhne der Lords dem Buͤrger-Stande an-
gehoͤren, und die Geburt der Mutter eines Lords rechtlich
gleichguͤltig iſt.

75. Wie viel es aber fuͤr die Staatsverfaſſung und
den Volksfrieden bedeute, daß die Geburtsariſtokratie ihre
rechte und verſoͤhnende Stelle im Staate finde, ergiebt
ſich vollends unwiderleglich, wenn man die Geſchichte an-
derer Staaten, in welcher die Ausbildung des Adels einen
abweichenden Weg nahm, in die Vergleichung zieht.

Der Kampf, den in England manche Koͤnige gegen
die Kronvaſallen unternahmen, ſcheiterte dort an dem Zu-
ſammenhange ihres Widerſtandes und dem rein bewahrten
Grundcharakter des Lehnweſens. Die franzoͤſiſche
Krone machte ihre Angriffe im Einzelnen, untergrub das
Princip und kam zum Ziele. Schon die Kreuzzuͤge wur-
den zu dieſem Zwecke benutzt; man geſtattete dem Adel
Guͤter-Verkaͤufe zum heiligen Werke. Mehr that das
Eindringen Roͤmiſcher Rechtsgrundſaͤtze, die Zerſplitterung
des Grundeigenthums beguͤnſtigend. Im Suͤden des Rei-
ches, wo das Juſtinianeiſche Recht vorwog (pays du droit
écrit
), theilte man fruͤh die Lehne nach Koͤpfen; im Norden,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0070" n="58"/>
              <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Drittes Capitel</hi>.</fw><lb/>
              <p>Derge&#x017F;talt blieb, nachdem das Lehnswe&#x017F;en &#x017F;eine Be-<lb/>
deutung in der Verfa&#x017F;&#x017F;ung verloren hatte, weil der Kriegs-<lb/>
dien&#x017F;t vom Lehn aufho&#x0364;rte, und nachdem Karl <hi rendition="#aq">II.</hi> alle Lehen<lb/>
in freie Erbzinsgu&#x0364;ter verwandelt hatte, u&#x0364;ber die durch<lb/>
Te&#x017F;tament verfu&#x0364;gt werden durfte, die Pa&#x0364;rie als eine rein<lb/>
politi&#x017F;che In&#x017F;titution u&#x0364;brig, als ein lebendiger Zweig der<lb/>
Staatsgewalt, die Fortdauer ihres erblichen Vorrechts<lb/>
&#x017F;tu&#x0364;tzend auf einem ungeheuren unvera&#x0364;ußerlichen Grundver-<lb/>
mo&#x0364;gen, dem Ganzen zum Nutzen, keinem Stande zu Leide,<lb/>
auch kein Selb&#x017F;tgefu&#x0364;hl des Bu&#x0364;rgerlichen verletzend, weil<lb/>
die ju&#x0364;ngeren So&#x0364;hne der Lords dem Bu&#x0364;rger-Stande an-<lb/>
geho&#x0364;ren, und die Geburt der Mutter eines Lords rechtlich<lb/>
gleichgu&#x0364;ltig i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>75. Wie viel es aber fu&#x0364;r die Staatsverfa&#x017F;&#x017F;ung und<lb/>
den Volksfrieden bedeute, daß die Geburtsari&#x017F;tokratie ihre<lb/>
rechte und ver&#x017F;o&#x0364;hnende Stelle im Staate finde, ergiebt<lb/>
&#x017F;ich vollends unwiderleglich, wenn man die Ge&#x017F;chichte an-<lb/>
derer Staaten, in welcher die Ausbildung des Adels einen<lb/>
abweichenden Weg nahm, in die Vergleichung zieht.</p><lb/>
              <p>Der Kampf, den in England manche Ko&#x0364;nige gegen<lb/>
die Kronva&#x017F;allen unternahmen, &#x017F;cheiterte dort an dem Zu-<lb/>
&#x017F;ammenhange ihres Wider&#x017F;tandes und dem rein bewahrten<lb/>
Grundcharakter des Lehnwe&#x017F;ens. Die <hi rendition="#g">franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che</hi><lb/>
Krone machte ihre Angriffe im Einzelnen, untergrub das<lb/>
Princip und kam zum Ziele. Schon die Kreuzzu&#x0364;ge wur-<lb/>
den zu die&#x017F;em Zwecke benutzt; man ge&#x017F;tattete dem Adel<lb/>
Gu&#x0364;ter-Verka&#x0364;ufe zum heiligen Werke. Mehr that das<lb/>
Eindringen Ro&#x0364;mi&#x017F;cher Rechtsgrund&#x017F;a&#x0364;tze, die Zer&#x017F;plitterung<lb/>
des Grundeigenthums begu&#x0364;n&#x017F;tigend. Im Su&#x0364;den des Rei-<lb/>
ches, wo das Ju&#x017F;tinianei&#x017F;che Recht vorwog (<hi rendition="#aq">pays du droit<lb/>
écrit</hi>), theilte man fru&#x0364;h die Lehne nach Ko&#x0364;pfen; im Norden,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0070] Drittes Capitel. Dergeſtalt blieb, nachdem das Lehnsweſen ſeine Be- deutung in der Verfaſſung verloren hatte, weil der Kriegs- dienſt vom Lehn aufhoͤrte, und nachdem Karl II. alle Lehen in freie Erbzinsguͤter verwandelt hatte, uͤber die durch Teſtament verfuͤgt werden durfte, die Paͤrie als eine rein politiſche Inſtitution uͤbrig, als ein lebendiger Zweig der Staatsgewalt, die Fortdauer ihres erblichen Vorrechts ſtuͤtzend auf einem ungeheuren unveraͤußerlichen Grundver- moͤgen, dem Ganzen zum Nutzen, keinem Stande zu Leide, auch kein Selbſtgefuͤhl des Buͤrgerlichen verletzend, weil die juͤngeren Soͤhne der Lords dem Buͤrger-Stande an- gehoͤren, und die Geburt der Mutter eines Lords rechtlich gleichguͤltig iſt. 75. Wie viel es aber fuͤr die Staatsverfaſſung und den Volksfrieden bedeute, daß die Geburtsariſtokratie ihre rechte und verſoͤhnende Stelle im Staate finde, ergiebt ſich vollends unwiderleglich, wenn man die Geſchichte an- derer Staaten, in welcher die Ausbildung des Adels einen abweichenden Weg nahm, in die Vergleichung zieht. Der Kampf, den in England manche Koͤnige gegen die Kronvaſallen unternahmen, ſcheiterte dort an dem Zu- ſammenhange ihres Widerſtandes und dem rein bewahrten Grundcharakter des Lehnweſens. Die franzoͤſiſche Krone machte ihre Angriffe im Einzelnen, untergrub das Princip und kam zum Ziele. Schon die Kreuzzuͤge wur- den zu dieſem Zwecke benutzt; man geſtattete dem Adel Guͤter-Verkaͤufe zum heiligen Werke. Mehr that das Eindringen Roͤmiſcher Rechtsgrundſaͤtze, die Zerſplitterung des Grundeigenthums beguͤnſtigend. Im Suͤden des Rei- ches, wo das Juſtinianeiſche Recht vorwog (pays du droit écrit), theilte man fruͤh die Lehne nach Koͤpfen; im Norden,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/70
Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/70>, abgerufen am 22.11.2024.