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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Religion und Kirche im Staate.
in der Welt der Gefühle, die den Menschen ohne sein Zu-
thun fassen, in dem Einen wird übermächtig, was bei dem
Andern spurlos vorübergeht. Wir gestehen zu, daß ohne
die Dazwischenkunft der Päbste sich das Christenthum wahr-
scheinlich in eine Menge verschiedenartiger Culte, deren ge-
meinsamer Ursprung vielleicht nur dem gelehrten Untersucher
vorläge, verloren haben würde; nichts desto weniger ist ihr
Trachten eine bindende Glaubensnorm für die ganze Mensch-
heit festzustellen durch die Reformation für immer vereitelt.
Wenn gleich kein völliges Auseinandergehen mehr zu fürch-
ten ist; man erkennt vielmehr an, daß im tieferen inne-
ren
Grunde Katholicismus und Protestantismus sich haupt-
sächlich dadurch unterscheiden, daß der eine auf diese, der
andere auf jene Sätze desselben Glaubens das Hauptge-
wicht legt; so wird doch wahrscheinlich die Zahl der kirch-
lichen Absonderungen in der nächsten Zeit eher zu- als
abnehmen. Denn was früher einfach war, die persönli-
chen und Lebens-Verhältnisse des Stifters, ist jetzt durch
Gelehrsamkeit (unvermeidlich wohl, aber doch wirklich) ein
höchst verwickelter Thatbestand geworden, einfach dagegen
ein Anderes, was früher, als das Christenthum noch keine
eigentliche Geschichte hatte, schwierig war, weil eben die
historische Entwickelung fehlte: das Verhältniß der Lehre
zum Leben und die Erkenntniß der Wirkungen der Lehre.
Woher es denn gekommen seyn mag, daß Viele jene frü-
heste Zeit, als mit großem Dunkel behaftet und kaum
erforschbar aufgeben, gleichsam auf den Aufgang der Sonne
verzichten, keinesweges aber den Glauben versagen jener
größesten aller Erscheinungen, die längst an den Mittags-
himmel der Geschichte getreten ist, vielmehr sie an ihren
Werken zu erkennen und ihre Weisungen in sich aufzu-
nehmen bemüht sind. Daraus aber folgt, daß mit der

Religion und Kirche im Staate.
in der Welt der Gefuͤhle, die den Menſchen ohne ſein Zu-
thun faſſen, in dem Einen wird uͤbermaͤchtig, was bei dem
Andern ſpurlos voruͤbergeht. Wir geſtehen zu, daß ohne
die Dazwiſchenkunft der Paͤbſte ſich das Chriſtenthum wahr-
ſcheinlich in eine Menge verſchiedenartiger Culte, deren ge-
meinſamer Urſprung vielleicht nur dem gelehrten Unterſucher
vorlaͤge, verloren haben wuͤrde; nichts deſto weniger iſt ihr
Trachten eine bindende Glaubensnorm fuͤr die ganze Menſch-
heit feſtzuſtellen durch die Reformation fuͤr immer vereitelt.
Wenn gleich kein voͤlliges Auseinandergehen mehr zu fuͤrch-
ten iſt; man erkennt vielmehr an, daß im tieferen inne-
ren
Grunde Katholicismus und Proteſtantismus ſich haupt-
ſaͤchlich dadurch unterſcheiden, daß der eine auf dieſe, der
andere auf jene Saͤtze desſelben Glaubens das Hauptge-
wicht legt; ſo wird doch wahrſcheinlich die Zahl der kirch-
lichen Abſonderungen in der naͤchſten Zeit eher zu- als
abnehmen. Denn was fruͤher einfach war, die perſoͤnli-
chen und Lebens-Verhaͤltniſſe des Stifters, iſt jetzt durch
Gelehrſamkeit (unvermeidlich wohl, aber doch wirklich) ein
hoͤchſt verwickelter Thatbeſtand geworden, einfach dagegen
ein Anderes, was fruͤher, als das Chriſtenthum noch keine
eigentliche Geſchichte hatte, ſchwierig war, weil eben die
hiſtoriſche Entwickelung fehlte: das Verhaͤltniß der Lehre
zum Leben und die Erkenntniß der Wirkungen der Lehre.
Woher es denn gekommen ſeyn mag, daß Viele jene fruͤ-
heſte Zeit, als mit großem Dunkel behaftet und kaum
erforſchbar aufgeben, gleichſam auf den Aufgang der Sonne
verzichten, keinesweges aber den Glauben verſagen jener
groͤßeſten aller Erſcheinungen, die laͤngſt an den Mittags-
himmel der Geſchichte getreten iſt, vielmehr ſie an ihren
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[313/0325] Religion und Kirche im Staate. in der Welt der Gefuͤhle, die den Menſchen ohne ſein Zu- thun faſſen, in dem Einen wird uͤbermaͤchtig, was bei dem Andern ſpurlos voruͤbergeht. Wir geſtehen zu, daß ohne die Dazwiſchenkunft der Paͤbſte ſich das Chriſtenthum wahr- ſcheinlich in eine Menge verſchiedenartiger Culte, deren ge- meinſamer Urſprung vielleicht nur dem gelehrten Unterſucher vorlaͤge, verloren haben wuͤrde; nichts deſto weniger iſt ihr Trachten eine bindende Glaubensnorm fuͤr die ganze Menſch- heit feſtzuſtellen durch die Reformation fuͤr immer vereitelt. Wenn gleich kein voͤlliges Auseinandergehen mehr zu fuͤrch- ten iſt; man erkennt vielmehr an, daß im tieferen inne- ren Grunde Katholicismus und Proteſtantismus ſich haupt- ſaͤchlich dadurch unterſcheiden, daß der eine auf dieſe, der andere auf jene Saͤtze desſelben Glaubens das Hauptge- wicht legt; ſo wird doch wahrſcheinlich die Zahl der kirch- lichen Abſonderungen in der naͤchſten Zeit eher zu- als abnehmen. Denn was fruͤher einfach war, die perſoͤnli- chen und Lebens-Verhaͤltniſſe des Stifters, iſt jetzt durch Gelehrſamkeit (unvermeidlich wohl, aber doch wirklich) ein hoͤchſt verwickelter Thatbeſtand geworden, einfach dagegen ein Anderes, was fruͤher, als das Chriſtenthum noch keine eigentliche Geſchichte hatte, ſchwierig war, weil eben die hiſtoriſche Entwickelung fehlte: das Verhaͤltniß der Lehre zum Leben und die Erkenntniß der Wirkungen der Lehre. Woher es denn gekommen ſeyn mag, daß Viele jene fruͤ- heſte Zeit, als mit großem Dunkel behaftet und kaum erforſchbar aufgeben, gleichſam auf den Aufgang der Sonne verzichten, keinesweges aber den Glauben verſagen jener groͤßeſten aller Erſcheinungen, die laͤngſt an den Mittags- himmel der Geſchichte getreten iſt, vielmehr ſie an ihren Werken zu erkennen und ihre Weiſungen in ſich aufzu- nehmen bemuͤht ſind. Daraus aber folgt, daß mit der

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/325>, abgerufen am 22.11.2024.