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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Funfzehntes Capitel.
letzten Rest der Freiheit, ein Gegenstand nach dem andern
muß aus dem geschützten Gebiete weichen, und der ver-
heißene Genuß der Preßfreiheit verliert sich in die Feier
einiger theoretischen Siege auf dem großen Schlachtfelde
praktischer Niederlagen. Gewiß die Beibehaltung der Cen-
sur ist demüthigend für das Selbstgefühl, aber es liegt
eine Aussicht in ihr für die friedliche Vermittelung drohen-
der vaterländischer Verhältnisse und einen künftigen Besser-
stand. Die Regierungen, jenes lästigen fortwährenden
Conflicts enthoben, mit den Mächten draußen, oder drin-
nen mit den eigenen Unterthanen, bleiben auf gewohnten
Bahnen der Macht im Stande, die wirkliche Lage der
Dinge sorgenfreier ins Auge zu fassen. Sie können der
Wissenschaften nicht entrathen und wissen das, denn Ge-
walt allein vermag heute auf die Dauer nichts, auf über-
lieferte Ordnung ist jetzt wenig mehr zu bauen, auch die
Macht muß mit Gründen kämpfen. Man darf den Ast
nicht absägen, auf dem man selber sitzt und Früchte sam-
melt. Vor Allem aber bedeutet der freie Gedankenverkehr
dem Deutschen viel. So abgezogen sinnt und so beruhigt
sich keiner, wenn er sich das Herz leicht gesprochen hat,
wie der Deutsche. Er ist langsam zur That, ein volles
Jahrhundert liegt zwischen Huß und Luther; aber wie be-
harrlich ist er auch den Grundgedanken auszuarbeiten, der,
lange getragen, endlich ihm aus der Seele in die Aussen-
welt getreten ist! Nicht der Deutsche ist zum Staate, der
Staat ist zu dem Deutschen gekommen, hat durch eine
schwere Leidenszeit Genugthuung von ihm genommen für
lange Vernachlässigung. Diese Richtung geht nicht wieder
unter. Sie kann und muß beschränkt werden, damit sie
Bildung gewinne, nicht naturalistisch wuchere; sie unter-
drücken wollen, heißt sie verdichten, daß sie gewaltsam der-

Funfzehntes Capitel.
letzten Reſt der Freiheit, ein Gegenſtand nach dem andern
muß aus dem geſchuͤtzten Gebiete weichen, und der ver-
heißene Genuß der Preßfreiheit verliert ſich in die Feier
einiger theoretiſchen Siege auf dem großen Schlachtfelde
praktiſcher Niederlagen. Gewiß die Beibehaltung der Cen-
ſur iſt demuͤthigend fuͤr das Selbſtgefuͤhl, aber es liegt
eine Ausſicht in ihr fuͤr die friedliche Vermittelung drohen-
der vaterlaͤndiſcher Verhaͤltniſſe und einen kuͤnftigen Beſſer-
ſtand. Die Regierungen, jenes laͤſtigen fortwaͤhrenden
Conflicts enthoben, mit den Maͤchten draußen, oder drin-
nen mit den eigenen Unterthanen, bleiben auf gewohnten
Bahnen der Macht im Stande, die wirkliche Lage der
Dinge ſorgenfreier ins Auge zu faſſen. Sie koͤnnen der
Wiſſenſchaften nicht entrathen und wiſſen das, denn Ge-
walt allein vermag heute auf die Dauer nichts, auf uͤber-
lieferte Ordnung iſt jetzt wenig mehr zu bauen, auch die
Macht muß mit Gruͤnden kaͤmpfen. Man darf den Aſt
nicht abſaͤgen, auf dem man ſelber ſitzt und Fruͤchte ſam-
melt. Vor Allem aber bedeutet der freie Gedankenverkehr
dem Deutſchen viel. So abgezogen ſinnt und ſo beruhigt
ſich keiner, wenn er ſich das Herz leicht geſprochen hat,
wie der Deutſche. Er iſt langſam zur That, ein volles
Jahrhundert liegt zwiſchen Huß und Luther; aber wie be-
harrlich iſt er auch den Grundgedanken auszuarbeiten, der,
lange getragen, endlich ihm aus der Seele in die Auſſen-
welt getreten iſt! Nicht der Deutſche iſt zum Staate, der
Staat iſt zu dem Deutſchen gekommen, hat durch eine
ſchwere Leidenszeit Genugthuung von ihm genommen fuͤr
lange Vernachlaͤſſigung. Dieſe Richtung geht nicht wieder
unter. Sie kann und muß beſchraͤnkt werden, damit ſie
Bildung gewinne, nicht naturaliſtiſch wuchere; ſie unter-
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[308/0320] Funfzehntes Capitel. letzten Reſt der Freiheit, ein Gegenſtand nach dem andern muß aus dem geſchuͤtzten Gebiete weichen, und der ver- heißene Genuß der Preßfreiheit verliert ſich in die Feier einiger theoretiſchen Siege auf dem großen Schlachtfelde praktiſcher Niederlagen. Gewiß die Beibehaltung der Cen- ſur iſt demuͤthigend fuͤr das Selbſtgefuͤhl, aber es liegt eine Ausſicht in ihr fuͤr die friedliche Vermittelung drohen- der vaterlaͤndiſcher Verhaͤltniſſe und einen kuͤnftigen Beſſer- ſtand. Die Regierungen, jenes laͤſtigen fortwaͤhrenden Conflicts enthoben, mit den Maͤchten draußen, oder drin- nen mit den eigenen Unterthanen, bleiben auf gewohnten Bahnen der Macht im Stande, die wirkliche Lage der Dinge ſorgenfreier ins Auge zu faſſen. Sie koͤnnen der Wiſſenſchaften nicht entrathen und wiſſen das, denn Ge- walt allein vermag heute auf die Dauer nichts, auf uͤber- lieferte Ordnung iſt jetzt wenig mehr zu bauen, auch die Macht muß mit Gruͤnden kaͤmpfen. Man darf den Aſt nicht abſaͤgen, auf dem man ſelber ſitzt und Fruͤchte ſam- melt. Vor Allem aber bedeutet der freie Gedankenverkehr dem Deutſchen viel. So abgezogen ſinnt und ſo beruhigt ſich keiner, wenn er ſich das Herz leicht geſprochen hat, wie der Deutſche. Er iſt langſam zur That, ein volles Jahrhundert liegt zwiſchen Huß und Luther; aber wie be- harrlich iſt er auch den Grundgedanken auszuarbeiten, der, lange getragen, endlich ihm aus der Seele in die Auſſen- welt getreten iſt! Nicht der Deutſche iſt zum Staate, der Staat iſt zu dem Deutſchen gekommen, hat durch eine ſchwere Leidenszeit Genugthuung von ihm genommen fuͤr lange Vernachlaͤſſigung. Dieſe Richtung geht nicht wieder unter. Sie kann und muß beſchraͤnkt werden, damit ſie Bildung gewinne, nicht naturaliſtiſch wuchere; ſie unter- druͤcken wollen, heißt ſie verdichten, daß ſie gewaltſam der-

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/320>, abgerufen am 23.11.2024.