ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretender Körper.
232. Darf man so Humen preisen, daß er die Ge- brechen des Lockischen Systems glücklich an der Hand der Erfahrung vermied, so stellt dagegen der Bürger von Genf die Humische Sitte der Gattung als ein Recht der Gattung auf und erhebt dasselbe zum Sitze einer unver- äußerlichen Souveränität. Auf die Nothbrücke, welche Locke für den äußersten Fall geschlagen hat, baut Rous- seau den ganzen Staat. Er geht, wie man seit Hobbes pflegte, von einem Naturstande aus, der ihm ungesellig erscheint, und aus demselben durch einen freien Vertrag, ähnlich dem des Locke, in die bürgerliche Gesellschaft über, die aber dem Rousseau keineswegs als ein Zustand der Vervollkommnung sich darstellt. Dieser unglücklicherweise nun einmahl nöthige Vertrag hat, wie bei Locke, den Schutz des Eigenthums zum Zwecke. Der Vertrag wird aber keineswegs geschlossen zwischen einer Regierung, die man in Voraussetzung der definitiven Übereinkunft vorläufig schon anerkennt, und einem Volke, welches sich bedin- gungsweise regieren zu lassen bereit ist, sondern lediglich unter den Mitgliedern des Volks selber, die demnächst eine Regierung zur Ausführung des Vertrags anstellen und in- struiren werden. Er ist das Resultat einer freiwilligen Übereinkunft aller von Natur gleichen Mitglieder des Volks, die ihren Einzel-Willen (volonte de tous) für die Zu- kunft dem allgemeinen Willen (volonte generale) unter- werfen. Das Volk ist und bleibt im Besitze nicht bloß der höchsten, sondern aller unabhängigen Staatsgewalt (souverain). Es übt die Gesetzgebung unmittelbar in Volksversammlungen, deren unvermeidliche Unförmlichkeit
Neuntes Capitel.
ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretender Koͤrper.
232. Darf man ſo Humen preiſen, daß er die Ge- brechen des Lockiſchen Syſtems gluͤcklich an der Hand der Erfahrung vermied, ſo ſtellt dagegen der Buͤrger von Genf die Humiſche Sitte der Gattung als ein Recht der Gattung auf und erhebt dasſelbe zum Sitze einer unver- aͤußerlichen Souveraͤnitaͤt. Auf die Nothbruͤcke, welche Locke fuͤr den aͤußerſten Fall geſchlagen hat, baut Rouſ- ſeau den ganzen Staat. Er geht, wie man ſeit Hobbes pflegte, von einem Naturſtande aus, der ihm ungeſellig erſcheint, und aus demſelben durch einen freien Vertrag, aͤhnlich dem des Locke, in die buͤrgerliche Geſellſchaft uͤber, die aber dem Rouſſeau keineswegs als ein Zuſtand der Vervollkommnung ſich darſtellt. Dieſer ungluͤcklicherweiſe nun einmahl noͤthige Vertrag hat, wie bei Locke, den Schutz des Eigenthums zum Zwecke. Der Vertrag wird aber keineswegs geſchloſſen zwiſchen einer Regierung, die man in Vorausſetzung der definitiven Übereinkunft vorlaͤufig ſchon anerkennt, und einem Volke, welches ſich bedin- gungsweiſe regieren zu laſſen bereit iſt, ſondern lediglich unter den Mitgliedern des Volks ſelber, die demnaͤchſt eine Regierung zur Ausfuͤhrung des Vertrags anſtellen und in- ſtruiren werden. Er iſt das Reſultat einer freiwilligen Übereinkunft aller von Natur gleichen Mitglieder des Volks, die ihren Einzel-Willen (volonté de tous) fuͤr die Zu- kunft dem allgemeinen Willen (volonté générale) unter- werfen. Das Volk iſt und bleibt im Beſitze nicht bloß der hoͤchſten, ſondern aller unabhaͤngigen Staatsgewalt (souverain). Es uͤbt die Geſetzgebung unmittelbar in Volksverſammlungen, deren unvermeidliche Unfoͤrmlichkeit
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Neuntes Capitel.
ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretender
Koͤrper.
232. Darf man ſo Humen preiſen, daß er die Ge-
brechen des Lockiſchen Syſtems gluͤcklich an der Hand der
Erfahrung vermied, ſo ſtellt dagegen der Buͤrger von Genf
die Humiſche Sitte der Gattung als ein Recht der
Gattung auf und erhebt dasſelbe zum Sitze einer unver-
aͤußerlichen Souveraͤnitaͤt. Auf die Nothbruͤcke, welche
Locke fuͤr den aͤußerſten Fall geſchlagen hat, baut Rouſ-
ſeau den ganzen Staat. Er geht, wie man ſeit Hobbes
pflegte, von einem Naturſtande aus, der ihm ungeſellig
erſcheint, und aus demſelben durch einen freien Vertrag,
aͤhnlich dem des Locke, in die buͤrgerliche Geſellſchaft uͤber,
die aber dem Rouſſeau keineswegs als ein Zuſtand der
Vervollkommnung ſich darſtellt. Dieſer ungluͤcklicherweiſe
nun einmahl noͤthige Vertrag hat, wie bei Locke, den Schutz
des Eigenthums zum Zwecke. Der Vertrag wird aber
keineswegs geſchloſſen zwiſchen einer Regierung, die man
in Vorausſetzung der definitiven Übereinkunft vorlaͤufig
ſchon anerkennt, und einem Volke, welches ſich bedin-
gungsweiſe regieren zu laſſen bereit iſt, ſondern lediglich
unter den Mitgliedern des Volks ſelber, die demnaͤchſt eine
Regierung zur Ausfuͤhrung des Vertrags anſtellen und in-
ſtruiren werden. Er iſt das Reſultat einer freiwilligen
Übereinkunft aller von Natur gleichen Mitglieder des Volks,
die ihren Einzel-Willen (volonté de tous) fuͤr die Zu-
kunft dem allgemeinen Willen (volonté générale) unter-
werfen. Das Volk iſt und bleibt im Beſitze nicht bloß
der hoͤchſten, ſondern aller unabhaͤngigen Staatsgewalt
(souverain). Es uͤbt die Geſetzgebung unmittelbar in
Volksverſammlungen, deren unvermeidliche Unfoͤrmlichkeit
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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/216>, abgerufen am 19.07.2024.
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