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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Neuntes Capitel.
keit der Ansicht kommen, welche, von keiner Verschieden-
artigkeit der Erscheinungen über das Bedürfniß der
Gattung irregeführt, jedem Glaubensgenossen unermüdet
das gemeinsame Ziel für Hier und für Jenseits entgegen-
hielt. Der Einzel-Staat trat nothwendig auf eine tiefere
Stufe, seit Millionen in der Anschauung eines Mensch-
heits-Staates lebten. Der Staat konnte nicht mehr im
Aristotelischen Sinne Architektonik seyn.

222. Dazu die große Gemeinsamkeit des Natur-Stam-
mes der nun christlichen Völker und in den, sobald größere
Reichsbildungen ein klareres Bewußtseyn des Staats er-
zeugten, fertig dastehenden Lehnständen eine solche Gebun-
denheit der großen Schichten der Bevölkerung, wie sie
nur irgend da gewesen seyn konnte wo Eupatriden und die
hohen Rhamnes herrschten. Eine compacte Aristokratie der
Geschlechter mit starkem Druck nach unten; dennoch fan-
den die widerstrebenden Volks-Elemente, aus denen der
Franken Reich zusammenkam, siegende Deutsche und be-
siegte theils Gallier, theils ebenfalls Deutsche allein im
Bau des Lehnssystems ihre endliche Verbrüderung. Vasal-
lenthum mochte den Thron erschüttern, aber der Sturz
des Throns hätte das Lehn mit sich fortgerissen.

223. Die Kirche war Trotz des (Römischen) Staates
entstanden und gewachsen; sie lehrte leidenden Gehorsam
gegen den Staat. Einfach zu leisten war dieser; religiöse
Demuth, damahls in Fülle vorhanden, reichte aus. Schwer
und verwickelt ward erst die Aufgabe, seit das Christen-
thum überall in den Staaten des Welttheils durchge-
drungen war, als seine Geistlichkeit allenthalben erster
Reichsstand war, und es sich nun fragte, welches Gebiet

Neuntes Capitel.
keit der Anſicht kommen, welche, von keiner Verſchieden-
artigkeit der Erſcheinungen uͤber das Beduͤrfniß der
Gattung irregefuͤhrt, jedem Glaubensgenoſſen unermuͤdet
das gemeinſame Ziel fuͤr Hier und fuͤr Jenſeits entgegen-
hielt. Der Einzel-Staat trat nothwendig auf eine tiefere
Stufe, ſeit Millionen in der Anſchauung eines Menſch-
heits-Staates lebten. Der Staat konnte nicht mehr im
Ariſtoteliſchen Sinne Architektonik ſeyn.

222. Dazu die große Gemeinſamkeit des Natur-Stam-
mes der nun chriſtlichen Voͤlker und in den, ſobald groͤßere
Reichsbildungen ein klareres Bewußtſeyn des Staats er-
zeugten, fertig daſtehenden Lehnſtaͤnden eine ſolche Gebun-
denheit der großen Schichten der Bevoͤlkerung, wie ſie
nur irgend da geweſen ſeyn konnte wo Eupatriden und die
hohen Rhamnes herrſchten. Eine compacte Ariſtokratie der
Geſchlechter mit ſtarkem Druck nach unten; dennoch fan-
den die widerſtrebenden Volks-Elemente, aus denen der
Franken Reich zuſammenkam, ſiegende Deutſche und be-
ſiegte theils Gallier, theils ebenfalls Deutſche allein im
Bau des Lehnsſyſtems ihre endliche Verbruͤderung. Vaſal-
lenthum mochte den Thron erſchuͤttern, aber der Sturz
des Throns haͤtte das Lehn mit ſich fortgeriſſen.

223. Die Kirche war Trotz des (Roͤmiſchen) Staates
entſtanden und gewachſen; ſie lehrte leidenden Gehorſam
gegen den Staat. Einfach zu leiſten war dieſer; religioͤſe
Demuth, damahls in Fuͤlle vorhanden, reichte aus. Schwer
und verwickelt ward erſt die Aufgabe, ſeit das Chriſten-
thum uͤberall in den Staaten des Welttheils durchge-
drungen war, als ſeine Geiſtlichkeit allenthalben erſter
Reichsſtand war, und es ſich nun fragte, welches Gebiet

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[194/0206] Neuntes Capitel. keit der Anſicht kommen, welche, von keiner Verſchieden- artigkeit der Erſcheinungen uͤber das Beduͤrfniß der Gattung irregefuͤhrt, jedem Glaubensgenoſſen unermuͤdet das gemeinſame Ziel fuͤr Hier und fuͤr Jenſeits entgegen- hielt. Der Einzel-Staat trat nothwendig auf eine tiefere Stufe, ſeit Millionen in der Anſchauung eines Menſch- heits-Staates lebten. Der Staat konnte nicht mehr im Ariſtoteliſchen Sinne Architektonik ſeyn. 222. Dazu die große Gemeinſamkeit des Natur-Stam- mes der nun chriſtlichen Voͤlker und in den, ſobald groͤßere Reichsbildungen ein klareres Bewußtſeyn des Staats er- zeugten, fertig daſtehenden Lehnſtaͤnden eine ſolche Gebun- denheit der großen Schichten der Bevoͤlkerung, wie ſie nur irgend da geweſen ſeyn konnte wo Eupatriden und die hohen Rhamnes herrſchten. Eine compacte Ariſtokratie der Geſchlechter mit ſtarkem Druck nach unten; dennoch fan- den die widerſtrebenden Volks-Elemente, aus denen der Franken Reich zuſammenkam, ſiegende Deutſche und be- ſiegte theils Gallier, theils ebenfalls Deutſche allein im Bau des Lehnsſyſtems ihre endliche Verbruͤderung. Vaſal- lenthum mochte den Thron erſchuͤttern, aber der Sturz des Throns haͤtte das Lehn mit ſich fortgeriſſen. 223. Die Kirche war Trotz des (Roͤmiſchen) Staates entſtanden und gewachſen; ſie lehrte leidenden Gehorſam gegen den Staat. Einfach zu leiſten war dieſer; religioͤſe Demuth, damahls in Fuͤlle vorhanden, reichte aus. Schwer und verwickelt ward erſt die Aufgabe, ſeit das Chriſten- thum uͤberall in den Staaten des Welttheils durchge- drungen war, als ſeine Geiſtlichkeit allenthalben erſter Reichsſtand war, und es ſich nun fragte, welches Gebiet

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/206>, abgerufen am 23.11.2024.