Eine Stadt, die zugleich Staat ist, wird immer zwei Kammern für die Gesetzgebung haben; die Mannigfaltig- keit der städtischen Betriebe führt von selber dahin. Thö- richt dagegen wäre es, ein einfaches Landvolk von gleich- artigen, nirgend sich gefährlich reibenden Interessen, in zwei Kammern künstlich zerspalten zu wollen.
Überhaupt ändere man nie um der Theorie Willen. Mancher Mensch lebt mit seinem Höcker achtzig Jahre lang. Die Operation würde ihm das Leben kosten. Wo ein Volk in ungetheilter Versammlung sich innerlich befrie- digt und einträchtig fühlt, da erfreue man sich der Leich- tigkeit des Geschäftsganges und des Gefühls der Gleich- heit, welches sie gewährt. Wo aber wichtige Interessen sich unterdrückt fühlen unter einer und derselben lastenden Majorität, da lasse man der Ungleichartigkeit ihr Recht widerfahren und versöhne sie, indem man sie respectirt.
In den zweiten Kammern Deutscher Ständeversamm- lungen hat sich oft genug der Wunsch ausgesprochen, daß nur eine Kammer seyn möge. Die geistreichen Redner setzen dabei offenbar stillschweigend voraus, daß dann ihre Ansichten und Wünsche leichter obsiegen werden. Wie aber, wenn das Gegentheil geschähe? Wenn die Aristo- kratie, oder wie man die schnellen Veränderungen abge- neigte Parthey nennen möge, nun in der ungetheilten Ständeversammlung obsiegte? Dann würden sie empfin- den, was es bedeutet, aus der Majorität, freilich nur in einer Kammer, in eine beständige Minorität versetzt zu seyn. -- Darum wird nicht behauptet, daß die ersten Kammern unserer neueren Verfassungen politische Meister- werke sind.
Das Englische Parlament hat innerhalb weniger Jahre zu Stande gebracht: die Aufhebung der Test-Acte, die
Sechstes Capitel.
Eine Stadt, die zugleich Staat iſt, wird immer zwei Kammern fuͤr die Geſetzgebung haben; die Mannigfaltig- keit der ſtaͤdtiſchen Betriebe fuͤhrt von ſelber dahin. Thoͤ- richt dagegen waͤre es, ein einfaches Landvolk von gleich- artigen, nirgend ſich gefaͤhrlich reibenden Intereſſen, in zwei Kammern kuͤnſtlich zerſpalten zu wollen.
Überhaupt aͤndere man nie um der Theorie Willen. Mancher Menſch lebt mit ſeinem Hoͤcker achtzig Jahre lang. Die Operation wuͤrde ihm das Leben koſten. Wo ein Volk in ungetheilter Verſammlung ſich innerlich befrie- digt und eintraͤchtig fuͤhlt, da erfreue man ſich der Leich- tigkeit des Geſchaͤftsganges und des Gefuͤhls der Gleich- heit, welches ſie gewaͤhrt. Wo aber wichtige Intereſſen ſich unterdruͤckt fuͤhlen unter einer und derſelben laſtenden Majoritaͤt, da laſſe man der Ungleichartigkeit ihr Recht widerfahren und verſoͤhne ſie, indem man ſie reſpectirt.
In den zweiten Kammern Deutſcher Staͤndeverſamm- lungen hat ſich oft genug der Wunſch ausgeſprochen, daß nur eine Kammer ſeyn moͤge. Die geiſtreichen Redner ſetzen dabei offenbar ſtillſchweigend voraus, daß dann ihre Anſichten und Wuͤnſche leichter obſiegen werden. Wie aber, wenn das Gegentheil geſchaͤhe? Wenn die Ariſto- kratie, oder wie man die ſchnellen Veraͤnderungen abge- neigte Parthey nennen moͤge, nun in der ungetheilten Staͤndeverſammlung obſiegte? Dann wuͤrden ſie empfin- den, was es bedeutet, aus der Majoritaͤt, freilich nur in einer Kammer, in eine beſtaͤndige Minoritaͤt verſetzt zu ſeyn. — Darum wird nicht behauptet, daß die erſten Kammern unſerer neueren Verfaſſungen politiſche Meiſter- werke ſind.
Das Engliſche Parlament hat innerhalb weniger Jahre zu Stande gebracht: die Aufhebung der Teſt-Acte, die
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Sechstes Capitel.
Eine Stadt, die zugleich Staat iſt, wird immer zwei
Kammern fuͤr die Geſetzgebung haben; die Mannigfaltig-
keit der ſtaͤdtiſchen Betriebe fuͤhrt von ſelber dahin. Thoͤ-
richt dagegen waͤre es, ein einfaches Landvolk von gleich-
artigen, nirgend ſich gefaͤhrlich reibenden Intereſſen, in
zwei Kammern kuͤnſtlich zerſpalten zu wollen.
Überhaupt aͤndere man nie um der Theorie Willen.
Mancher Menſch lebt mit ſeinem Hoͤcker achtzig Jahre
lang. Die Operation wuͤrde ihm das Leben koſten. Wo
ein Volk in ungetheilter Verſammlung ſich innerlich befrie-
digt und eintraͤchtig fuͤhlt, da erfreue man ſich der Leich-
tigkeit des Geſchaͤftsganges und des Gefuͤhls der Gleich-
heit, welches ſie gewaͤhrt. Wo aber wichtige Intereſſen
ſich unterdruͤckt fuͤhlen unter einer und derſelben laſtenden
Majoritaͤt, da laſſe man der Ungleichartigkeit ihr Recht
widerfahren und verſoͤhne ſie, indem man ſie reſpectirt.
In den zweiten Kammern Deutſcher Staͤndeverſamm-
lungen hat ſich oft genug der Wunſch ausgeſprochen, daß
nur eine Kammer ſeyn moͤge. Die geiſtreichen Redner
ſetzen dabei offenbar ſtillſchweigend voraus, daß dann ihre
Anſichten und Wuͤnſche leichter obſiegen werden. Wie
aber, wenn das Gegentheil geſchaͤhe? Wenn die Ariſto-
kratie, oder wie man die ſchnellen Veraͤnderungen abge-
neigte Parthey nennen moͤge, nun in der ungetheilten
Staͤndeverſammlung obſiegte? Dann wuͤrden ſie empfin-
den, was es bedeutet, aus der Majoritaͤt, freilich nur in
einer Kammer, in eine beſtaͤndige Minoritaͤt verſetzt zu
ſeyn. — Darum wird nicht behauptet, daß die erſten
Kammern unſerer neueren Verfaſſungen politiſche Meiſter-
werke ſind.
Das Engliſche Parlament hat innerhalb weniger Jahre
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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/140>, abgerufen am 20.07.2024.
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