Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

sucht. Sehr misslich aber steht es in dieser Beziehung mit
der Annahme von Analogiebildungen. Man hat zwar auch
nach dieser Richtung hin hier und da entsprechende Fälle
zusammenzustellen gesucht, allein die Aehnlichkeit der Fälle
ist hier bei der grossen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen
sehr viel schwerer nachzuweisen, als auf lautlichem Gebiete.
Auch ist das auf diese Weise zusammengebrachte Material
kein sehr erhebliches. Im besten Falle bleibt dem, welcher
diese Versuche überdenkt, ein unbestimmter Eindruck davon,
wie manches auf sprachlichem Gebiete möglich ist. Es be-
darf aber, will man ganz willkürliche Behauptungen von an-
nehmbaren unterscheiden, offenbar des Nachweises der Wahr-
scheinlichkeit, der nur durch genaueres Eingehen auf den
besonderen Fall geführt werden kann. Allzu oft aber begnügt
man sich mit der negativen Behauptung, dass eine lautliche
Gemeinschaft der einen Form mit der andern nicht nachweis-
bar sei. Wie wenig bei dem Eintreten der Analogiebildung
von Notwendigkeit die Rede sein kann, lehrt ein Blick auf
offenkundige, zweifellose Thatsachen der Art. Weil wir wis-
sen, dass im Lateinischen wie im Deutschen der Rhotacismus
im Inlaut früher eintrat als im Auslaut, bekennen wir uns
rückhaltlos dazu, dass die Nominative arbor und robur ihr r
erst durch Uebertragung aus den übrigen Casus erhielten, und
ebenso lehrt die deutsche Sprachgeschichte, dass das deutsche
"ich war" erst später nach der Analogie von "wir waren"
u. s. w. sein r erhielt. Warum aber in genus generis, vetus
veteris
die Differenz zwischen dem Nominativ und den übrigen
Casus beständig unausgeglichen blieb, das hat selbst in einem
solchen kaum abzuleugnenden Falle noch niemand gezeigt.
Henry in seinem schon erwähnten Buche "L'Analogie" p. 4
spricht sich zustimmend aus über ein Wort, das ich in meinem
"Verbum" II2 S. 44 gesagt habe: "Ueberall, wo das Reich der
Laune oder des Zufalls in der Sprache beschränkt wird, haben
wir dies als einen Gewinn zu betrachten". Bei der Analogie-

sucht. Sehr misslich aber steht es in dieser Beziehung mit
der Annahme von Analogiebildungen. Man hat zwar auch
nach dieser Richtung hin hier und da entsprechende Fälle
zusammenzustellen gesucht, allein die Aehnlichkeit der Fälle
ist hier bei der grossen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen
sehr viel schwerer nachzuweisen, als auf lautlichem Gebiete.
Auch ist das auf diese Weise zusammengebrachte Material
kein sehr erhebliches. Im besten Falle bleibt dem, welcher
diese Versuche überdenkt, ein unbestimmter Eindruck davon,
wie manches auf sprachlichem Gebiete möglich ist. Es be-
darf aber, will man ganz willkürliche Behauptungen von an-
nehmbaren unterscheiden, offenbar des Nachweises der Wahr-
scheinlichkeit, der nur durch genaueres Eingehen auf den
besonderen Fall geführt werden kann. Allzu oft aber begnügt
man sich mit der negativen Behauptung, dass eine lautliche
Gemeinschaft der einen Form mit der andern nicht nachweis-
bar sei. Wie wenig bei dem Eintreten der Analogiebildung
von Notwendigkeit die Rede sein kann, lehrt ein Blick auf
offenkundige, zweifellose Thatsachen der Art. Weil wir wis-
sen, dass im Lateinischen wie im Deutschen der Rhotacismus
im Inlaut früher eintrat als im Auslaut, bekennen wir uns
rückhaltlos dazu, dass die Nominative arbor und robur ihr r
erst durch Uebertragung aus den übrigen Casus erhielten, und
ebenso lehrt die deutsche Sprachgeschichte, dass das deutsche
„ich war“ erst später nach der Analogie von „wir waren
u. s. w. sein r erhielt. Warum aber in genus generis, vetus
veteris
die Differenz zwischen dem Nominativ und den übrigen
Casus beständig unausgeglichen blieb, das hat selbst in einem
solchen kaum abzuleugnenden Falle noch niemand gezeigt.
Henry in seinem schon erwähnten Buche „L'Analogie“ p. 4
spricht sich zustimmend aus über ein Wort, das ich in meinem
„Verbum“ II2 S. 44 gesagt habe: „Ueberall, wo das Reich der
Laune oder des Zufalls in der Sprache beschränkt wird, haben
wir dies als einen Gewinn zu betrachten“. Bei der Analogie-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0048" n="40"/>
sucht. Sehr misslich aber steht es in dieser Beziehung mit<lb/>
der Annahme von Analogiebildungen. Man hat zwar auch<lb/>
nach dieser Richtung hin hier und da entsprechende Fälle<lb/>
zusammenzustellen gesucht, allein die Aehnlichkeit der Fälle<lb/>
ist hier bei der grossen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen<lb/>
sehr viel schwerer nachzuweisen, als auf lautlichem Gebiete.<lb/>
Auch ist das auf diese Weise zusammengebrachte Material<lb/>
kein sehr erhebliches. Im besten Falle bleibt dem, welcher<lb/>
diese Versuche überdenkt, ein unbestimmter Eindruck davon,<lb/>
wie manches auf sprachlichem Gebiete möglich ist. Es be-<lb/>
darf aber, will man ganz willkürliche Behauptungen von an-<lb/>
nehmbaren unterscheiden, offenbar des Nachweises der Wahr-<lb/>
scheinlichkeit, der nur durch genaueres Eingehen auf den<lb/>
besonderen Fall geführt werden kann. Allzu oft aber begnügt<lb/>
man sich mit der negativen Behauptung, dass eine lautliche<lb/>
Gemeinschaft der einen Form mit der andern nicht nachweis-<lb/>
bar sei. Wie wenig bei dem Eintreten der Analogiebildung<lb/>
von Notwendigkeit die Rede sein kann, lehrt ein Blick auf<lb/>
offenkundige, zweifellose Thatsachen der Art. Weil wir wis-<lb/>
sen, dass im Lateinischen wie im Deutschen der Rhotacismus<lb/>
im Inlaut früher eintrat als im Auslaut, bekennen wir uns<lb/>
rückhaltlos dazu, dass die Nominative <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="lat">arbor</foreign></hi> und <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="lat">robur</foreign></hi> ihr <hi rendition="#i">r</hi><lb/>
erst durch Uebertragung aus den übrigen Casus erhielten, und<lb/>
ebenso lehrt die deutsche Sprachgeschichte, dass das deutsche<lb/>
&#x201E;ich <hi rendition="#i">war</hi>&#x201C; erst später nach der Analogie von &#x201E;wir <hi rendition="#i">waren</hi>&#x201C;<lb/>
u. s. w. sein <hi rendition="#i">r</hi> erhielt. Warum aber in <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="lat">genus generis</foreign></hi>, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">vetus<lb/>
veteris</foreign></hi> die Differenz zwischen dem Nominativ und den übrigen<lb/>
Casus beständig unausgeglichen blieb, das hat selbst in einem<lb/>
solchen kaum abzuleugnenden Falle noch niemand gezeigt.<lb/>
Henry in seinem schon erwähnten Buche &#x201E;L'Analogie&#x201C; p. 4<lb/>
spricht sich zustimmend aus über ein Wort, das ich in meinem<lb/>
&#x201E;Verbum&#x201C; II<hi rendition="#sup">2</hi> S. 44 gesagt habe: &#x201E;Ueberall, wo das Reich der<lb/>
Laune oder des Zufalls in der Sprache beschränkt wird, haben<lb/>
wir dies als einen Gewinn zu betrachten&#x201C;.   Bei der Analogie-<lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0048] sucht. Sehr misslich aber steht es in dieser Beziehung mit der Annahme von Analogiebildungen. Man hat zwar auch nach dieser Richtung hin hier und da entsprechende Fälle zusammenzustellen gesucht, allein die Aehnlichkeit der Fälle ist hier bei der grossen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen sehr viel schwerer nachzuweisen, als auf lautlichem Gebiete. Auch ist das auf diese Weise zusammengebrachte Material kein sehr erhebliches. Im besten Falle bleibt dem, welcher diese Versuche überdenkt, ein unbestimmter Eindruck davon, wie manches auf sprachlichem Gebiete möglich ist. Es be- darf aber, will man ganz willkürliche Behauptungen von an- nehmbaren unterscheiden, offenbar des Nachweises der Wahr- scheinlichkeit, der nur durch genaueres Eingehen auf den besonderen Fall geführt werden kann. Allzu oft aber begnügt man sich mit der negativen Behauptung, dass eine lautliche Gemeinschaft der einen Form mit der andern nicht nachweis- bar sei. Wie wenig bei dem Eintreten der Analogiebildung von Notwendigkeit die Rede sein kann, lehrt ein Blick auf offenkundige, zweifellose Thatsachen der Art. Weil wir wis- sen, dass im Lateinischen wie im Deutschen der Rhotacismus im Inlaut früher eintrat als im Auslaut, bekennen wir uns rückhaltlos dazu, dass die Nominative arbor und robur ihr r erst durch Uebertragung aus den übrigen Casus erhielten, und ebenso lehrt die deutsche Sprachgeschichte, dass das deutsche „ich war“ erst später nach der Analogie von „wir waren“ u. s. w. sein r erhielt. Warum aber in genus generis, vetus veteris die Differenz zwischen dem Nominativ und den übrigen Casus beständig unausgeglichen blieb, das hat selbst in einem solchen kaum abzuleugnenden Falle noch niemand gezeigt. Henry in seinem schon erwähnten Buche „L'Analogie“ p. 4 spricht sich zustimmend aus über ein Wort, das ich in meinem „Verbum“ II2 S. 44 gesagt habe: „Ueberall, wo das Reich der Laune oder des Zufalls in der Sprache beschränkt wird, haben wir dies als einen Gewinn zu betrachten“. Bei der Analogie-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/48
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/48>, abgerufen am 24.11.2024.