Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

Sprachleben, gerade ausschliesslich nach der lautlichen Seite
hin, eine unübersteigliche Schranke ziehen? Die nothwendige
Unterscheidung der in Bezug auf die Laute dem Naturleben
viel näher stehenden Sprache braucht desshalb nicht über-
sehen zu werden.

Ich selbst habe diese Fragen in der 5. Aufl. meiner Grund-
züge S. 425 ff. erörtert. Neben allgemeineren Bemerkungen,
die hier nicht wiederholt werden sollen, habe ich namentlich
eine grössere Reihe von anerkannten Thatsachen, vorzugs-
weise aus dem Griechischen, aber auch aus andern Sprachen,
vorgeführt, bei denen jenes Axiom von der unbedingten Con-
stanz der Lautbewegung schwer durchführbar ist. Delbrück
antwortet darauf S. 115 Anm. *), indem er auf dreierlei Weise
wenigstens einen kleinen Theil der von mir hervorgehobenen
Fälle erklären zu können glaubt, ohne dass jenes Axiom da-
durch beeinträchtigt wird. Man müsse nämlich, sagt er,
erstens untersuchen, ob Entlehnung vorliege. "Das wird z.B.
der Fall sein bei kidnatai neben skidnatai und tegos neben
stegos." In der That dürfte es aber sehr schwer sein, die
Verschiedenheit der Laute hier aus ursprünglicher Dialekt-
verschiedenheit zu erklären. Bei Homer stehen Formen wie
diaskidnasi E 526, skidnatai L 308 neben kidnatai th 1. Man
könnte hier also nur an Vermischung äolischer und ionischer
Formen denken. Aber bei Sappho 27 Be.4 lesen wir skidna-
menas
, folglich kann die kürzere Form, falls man nicht
Schreibfehler annehmen will, nicht auf Aeolismus beruhen;
ebensowenig aber die vollere. Denn bei Thuk. VI, 98 lesen

*) In der zweiten Auflage der Einleitung ist diese Anm. fortgelassen.
Beibehalten aber ist S. 130 das offene Geständniss: "Es ist zuzugeben,
dass völlige Gleichmässigkeit des Lautwandels sich nirgend in der
Welt der gegebenen Thatsachen findet
". Dennoch habe ich die
Bemerkungen gegen die Worte der 1. Aufl., da sie einmal geschrieben
waren, nicht fortgelassen, weil sie vielleicht der Sache zu gute kommen
können.

Sprachleben, gerade ausschliesslich nach der lautlichen Seite
hin, eine unübersteigliche Schranke ziehen? Die nothwendige
Unterscheidung der in Bezug auf die Laute dem Naturleben
viel näher stehenden Sprache braucht desshalb nicht über-
sehen zu werden.

Ich selbst habe diese Fragen in der 5. Aufl. meiner Grund-
züge S. 425 ff. erörtert. Neben allgemeineren Bemerkungen,
die hier nicht wiederholt werden sollen, habe ich namentlich
eine grössere Reihe von anerkannten Thatsachen, vorzugs-
weise aus dem Griechischen, aber auch aus andern Sprachen,
vorgeführt, bei denen jenes Axiom von der unbedingten Con-
stanz der Lautbewegung schwer durchführbar ist. Delbrück
antwortet darauf S. 115 Anm. *), indem er auf dreierlei Weise
wenigstens einen kleinen Theil der von mir hervorgehobenen
Fälle erklären zu können glaubt, ohne dass jenes Axiom da-
durch beeinträchtigt wird. Man müsse nämlich, sagt er,
erstens untersuchen, ob Entlehnung vorliege. „Das wird z.B.
der Fall sein bei κίδναται neben σκίδναται und τέγος neben
στέγος.“ In der That dürfte es aber sehr schwer sein, die
Verschiedenheit der Laute hier aus ursprünglicher Dialekt-
verschiedenheit zu erklären. Bei Homer stehen Formen wie
διασκιδνᾶσι Ε 526, σκίδναται Λ 308 neben κίδναται θ 1. Man
könnte hier also nur an Vermischung äolischer und ionischer
Formen denken. Aber bei Sappho 27 Be.4 lesen wir σκιδνα-
μένας
, folglich kann die kürzere Form, falls man nicht
Schreibfehler annehmen will, nicht auf Aeolismus beruhen;
ebensowenig aber die vollere. Denn bei Thuk. VI, 98 lesen

*) In der zweiten Auflage der Einleitung ist diese Anm. fortgelassen.
Beibehalten aber ist S. 130 das offene Geständniss: „Es ist zuzugeben,
dass völlige Gleichmässigkeit des Lautwandels sich nirgend in der
Welt der gegebenen Thatsachen findet
“. Dennoch habe ich die
Bemerkungen gegen die Worte der 1. Aufl., da sie einmal geschrieben
waren, nicht fortgelassen, weil sie vielleicht der Sache zu gute kommen
können.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0023" n="15"/>
Sprachleben, gerade ausschliesslich nach der lautlichen Seite<lb/>
hin, eine unübersteigliche Schranke ziehen? Die nothwendige<lb/>
Unterscheidung der in Bezug auf die Laute dem Naturleben<lb/>
viel näher stehenden Sprache braucht desshalb nicht über-<lb/>
sehen zu werden.</p><lb/>
        <p>Ich selbst habe diese Fragen in der 5. Aufl. meiner Grund-<lb/>
züge S. 425 ff. erörtert. Neben allgemeineren Bemerkungen,<lb/>
die hier nicht wiederholt werden sollen, habe ich namentlich<lb/>
eine grössere Reihe von anerkannten Thatsachen, vorzugs-<lb/>
weise aus dem Griechischen, aber auch aus andern Sprachen,<lb/>
vorgeführt, bei denen jenes Axiom von der unbedingten Con-<lb/>
stanz der Lautbewegung schwer durchführbar ist. Delbrück<lb/>
antwortet darauf S. 115 Anm.         <note place="foot" n="*)">In der zweiten Auflage der Einleitung ist diese Anm. fortgelassen.<lb/>
Beibehalten aber ist S. 130 das offene Geständniss: &#x201E;Es ist zuzugeben,<lb/>
dass völlige Gleichmässigkeit des Lautwandels sich <hi rendition="#g">nirgend in der<lb/>
Welt der gegebenen Thatsachen findet</hi>&#x201C;. Dennoch habe ich die<lb/>
Bemerkungen gegen die Worte der 1. Aufl., da sie einmal geschrieben<lb/>
waren, nicht fortgelassen, weil sie vielleicht der Sache zu gute kommen<lb/>
können.</note>, indem er auf dreierlei Weise<lb/>
wenigstens einen kleinen Theil der von mir hervorgehobenen<lb/>
Fälle erklären zu können glaubt, ohne dass jenes Axiom da-<lb/>
durch beeinträchtigt wird. Man müsse nämlich, sagt er,<lb/>
erstens untersuchen, ob Entlehnung vorliege. &#x201E;Das wird z.B.<lb/>
der Fall sein bei <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03AF;&#x03B4;&#x03BD;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9;</foreign></hi> neben <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C3;&#x03BA;&#x03AF;&#x03B4;&#x03BD;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9;</foreign></hi> und <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C4;&#x03AD;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2;</foreign></hi> neben<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C3;&#x03C4;&#x03AD;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2;</foreign></hi>.&#x201C; In der That dürfte es aber sehr schwer sein, die<lb/>
Verschiedenheit der Laute hier aus ursprünglicher Dialekt-<lb/>
verschiedenheit zu erklären. Bei Homer stehen Formen wie<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03B4;&#x03B9;&#x03B1;&#x03C3;&#x03BA;&#x03B9;&#x03B4;&#x03BD;&#x1FB6;&#x03C3;&#x03B9;</foreign> &#x0395;</hi> 526, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C3;&#x03BA;&#x03AF;&#x03B4;&#x03BD;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9;</foreign> &#x039B;</hi> 308 neben <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03AF;&#x03B4;&#x03BD;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9;</foreign> &#x03B8;</hi> 1. Man<lb/>
könnte hier also nur an Vermischung äolischer und ionischer<lb/>
Formen denken. Aber bei Sappho 27 Be.4 lesen wir <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C3;&#x03BA;&#x03B9;&#x03B4;&#x03BD;&#x03B1;-<lb/>
&#x03BC;&#x03AD;&#x03BD;&#x03B1;&#x03C2;</foreign></hi>, folglich kann die kürzere Form, falls man nicht<lb/>
Schreibfehler annehmen will, nicht auf Aeolismus beruhen;<lb/>
ebensowenig aber die vollere. Denn bei Thuk. VI, 98 lesen<lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0023] Sprachleben, gerade ausschliesslich nach der lautlichen Seite hin, eine unübersteigliche Schranke ziehen? Die nothwendige Unterscheidung der in Bezug auf die Laute dem Naturleben viel näher stehenden Sprache braucht desshalb nicht über- sehen zu werden. Ich selbst habe diese Fragen in der 5. Aufl. meiner Grund- züge S. 425 ff. erörtert. Neben allgemeineren Bemerkungen, die hier nicht wiederholt werden sollen, habe ich namentlich eine grössere Reihe von anerkannten Thatsachen, vorzugs- weise aus dem Griechischen, aber auch aus andern Sprachen, vorgeführt, bei denen jenes Axiom von der unbedingten Con- stanz der Lautbewegung schwer durchführbar ist. Delbrück antwortet darauf S. 115 Anm. *), indem er auf dreierlei Weise wenigstens einen kleinen Theil der von mir hervorgehobenen Fälle erklären zu können glaubt, ohne dass jenes Axiom da- durch beeinträchtigt wird. Man müsse nämlich, sagt er, erstens untersuchen, ob Entlehnung vorliege. „Das wird z.B. der Fall sein bei κίδναται neben σκίδναται und τέγος neben στέγος.“ In der That dürfte es aber sehr schwer sein, die Verschiedenheit der Laute hier aus ursprünglicher Dialekt- verschiedenheit zu erklären. Bei Homer stehen Formen wie διασκιδνᾶσι Ε 526, σκίδναται Λ 308 neben κίδναται θ 1. Man könnte hier also nur an Vermischung äolischer und ionischer Formen denken. Aber bei Sappho 27 Be.4 lesen wir σκιδνα- μένας, folglich kann die kürzere Form, falls man nicht Schreibfehler annehmen will, nicht auf Aeolismus beruhen; ebensowenig aber die vollere. Denn bei Thuk. VI, 98 lesen *) In der zweiten Auflage der Einleitung ist diese Anm. fortgelassen. Beibehalten aber ist S. 130 das offene Geständniss: „Es ist zuzugeben, dass völlige Gleichmässigkeit des Lautwandels sich nirgend in der Welt der gegebenen Thatsachen findet“. Dennoch habe ich die Bemerkungen gegen die Worte der 1. Aufl., da sie einmal geschrieben waren, nicht fortgelassen, weil sie vielleicht der Sache zu gute kommen können.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/23
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/23>, abgerufen am 21.11.2024.