Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

Wortsippe gemeinsam angehörte, os Fortsetzung oder Nach-
folger des Suffixes, an das sich in dem einen Falle die Func-
tion des Genitivs, in dem andern Falle die der nominalen
Stammbildung knüpft. Es würde zu einer unerträglichen Weit-
läufigkeit führen, wollte man etwa denkbaren Missverständ-
nissen gegenüber dies jedesmal so umständlich, wie es hier
geschehen ist, auseinandersetzen. Das kürzere Verfahren wird
schon dadurch fast zur Notwendigkeit, dass man ohne das-
selbe eigentlich gar nicht von Stämmen, Suffixen, Präfixen
reden könnte. Denn genau anzugeben, in welcher Lautgestalt
ursprünglich ein Stamm mit einer Endung verbunden wurde,
ist oft unmöglich. Beides, sowohl der Stamm wie die Endung,
können möglicherweise in jener unendlich frühen Periode sich
von den in irgend einer Sprache wirklich überlieferten Lauten
ein wenig unterschieden haben. Es ist sehr denkbar, dass in
jener frühesten Zeit das plus eines Lautes, möglicherweise
auch ein minus vorhanden war. In mehreren Sprachen finden
wir zum Beispiel für die zweite Person Sing, die Endung si,
so im Sanskrit, im Griechischen und mit kleiner Lautverän-
derung im Kirchenslawischen. Daraus folgt durchaus nicht,
dass diese Endung schon damals gerade so lautete, als sie
sich zuerst mit dem Verbalstamme verband. So rechtfertigt
es sich durchaus, dass wir auch für die indogermanische Ur-
sprache von einer Endung si reden, obgleich diese Endung
damals vielleicht svi oder tvi oder gar tva lautete, als sie zuerst
ihre Verbindung mit einem Verbalstamme einging, ebenso aber
auch für das Sanskrit und das Griechische, ohne dass man
sich des mehrfach gerügten Denkfehlers dabei schuldig macht.
Möglichkeiten solcher kleinen Irrthümer sind in der Sprach-
wissenschaft so oft möglich, dass man eigentlich immer im
Gedanken sich vorbehalten könnte: "Insofern hier nicht ein

lehrten, wie mich dünkt sehr passend, continuatore nennen. Ein allgemein
übliches Wort dafür ist in der deutschen Wissenschaft nicht vorhanden.

Wortsippe gemeinsam angehörte, ος Fortsetzung oder Nach-
folger des Suffixes, an das sich in dem einen Falle die Func-
tion des Genitivs, in dem andern Falle die der nominalen
Stammbildung knüpft. Es würde zu einer unerträglichen Weit-
läufigkeit führen, wollte man etwa denkbaren Missverständ-
nissen gegenüber dies jedesmal so umständlich, wie es hier
geschehen ist, auseinandersetzen. Das kürzere Verfahren wird
schon dadurch fast zur Notwendigkeit, dass man ohne das-
selbe eigentlich gar nicht von Stämmen, Suffixen, Präfixen
reden könnte. Denn genau anzugeben, in welcher Lautgestalt
ursprünglich ein Stamm mit einer Endung verbunden wurde,
ist oft unmöglich. Beides, sowohl der Stamm wie die Endung,
können möglicherweise in jener unendlich frühen Periode sich
von den in irgend einer Sprache wirklich überlieferten Lauten
ein wenig unterschieden haben. Es ist sehr denkbar, dass in
jener frühesten Zeit das plus eines Lautes, möglicherweise
auch ein minus vorhanden war. In mehreren Sprachen finden
wir zum Beispiel für die zweite Person Sing, die Endung si,
so im Sanskrit, im Griechischen und mit kleiner Lautverän-
derung im Kirchenslawischen. Daraus folgt durchaus nicht,
dass diese Endung schon damals gerade so lautete, als sie
sich zuerst mit dem Verbalstamme verband. So rechtfertigt
es sich durchaus, dass wir auch für die indogermanische Ur-
sprache von einer Endung si reden, obgleich diese Endung
damals vielleicht svi oder tvi oder gar tva lautete, als sie zuerst
ihre Verbindung mit einem Verbalstamme einging, ebenso aber
auch für das Sanskrit und das Griechische, ohne dass man
sich des mehrfach gerügten Denkfehlers dabei schuldig macht.
Möglichkeiten solcher kleinen Irrthümer sind in der Sprach-
wissenschaft so oft möglich, dass man eigentlich immer im
Gedanken sich vorbehalten könnte: „Insofern hier nicht ein

lehrten, wie mich dünkt sehr passend, continuatore nennen. Ein allgemein
übliches Wort dafür ist in der deutschen Wissenschaft nicht vorhanden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0141" n="133"/>
Wortsippe gemeinsam angehörte, <hi rendition="#i">&#x03BF;&#x03C2;</hi> Fortsetzung oder Nach-<lb/>
folger des Suffixes, an das sich in dem einen Falle die Func-<lb/>
tion des Genitivs, in dem andern Falle die der nominalen<lb/>
Stammbildung knüpft. Es würde zu einer unerträglichen Weit-<lb/>
läufigkeit führen, wollte man etwa denkbaren Missverständ-<lb/>
nissen gegenüber dies jedesmal so umständlich, wie es hier<lb/>
geschehen ist, auseinandersetzen. Das kürzere Verfahren wird<lb/>
schon dadurch fast zur Notwendigkeit, dass man ohne das-<lb/>
selbe eigentlich gar nicht von Stämmen, Suffixen, Präfixen<lb/>
reden könnte. Denn genau anzugeben, in welcher Lautgestalt<lb/>
ursprünglich ein Stamm mit einer Endung verbunden wurde,<lb/>
ist oft unmöglich. Beides, sowohl der Stamm wie die Endung,<lb/>
können möglicherweise in jener unendlich frühen Periode sich<lb/>
von den in irgend einer Sprache wirklich überlieferten Lauten<lb/>
ein wenig unterschieden haben. Es ist sehr denkbar, dass in<lb/>
jener frühesten Zeit das plus eines Lautes, möglicherweise<lb/>
auch ein minus vorhanden war. In mehreren Sprachen finden<lb/>
wir zum Beispiel für die zweite Person Sing, die Endung <hi rendition="#i">si</hi>,<lb/>
so im Sanskrit, im Griechischen und mit kleiner Lautverän-<lb/>
derung im Kirchenslawischen. Daraus folgt durchaus nicht,<lb/>
dass diese Endung schon damals gerade so lautete, als sie<lb/>
sich zuerst mit dem Verbalstamme verband. So rechtfertigt<lb/>
es sich durchaus, dass wir auch für die indogermanische Ur-<lb/>
sprache von einer Endung <hi rendition="#i">si</hi> reden, obgleich diese Endung<lb/>
damals vielleicht <hi rendition="#i">svi</hi> oder <hi rendition="#i">tvi</hi> oder gar <hi rendition="#i">tva</hi> lautete, als sie zuerst<lb/>
ihre Verbindung mit einem Verbalstamme einging, ebenso aber<lb/>
auch für das Sanskrit und das Griechische, ohne dass man<lb/>
sich des mehrfach gerügten Denkfehlers dabei schuldig macht.<lb/>
Möglichkeiten solcher kleinen Irrthümer sind in der Sprach-<lb/>
wissenschaft so oft möglich, dass man eigentlich immer im<lb/>
Gedanken sich vorbehalten könnte:   &#x201E;Insofern hier nicht ein<lb/><lb/>
<note xml:id="ftn4b" prev="#ftn4a" place="foot" n="*)">lehrten, wie mich dünkt sehr passend, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">continuatore</foreign></hi> nennen.   Ein allgemein<lb/>
übliches Wort dafür ist in der deutschen Wissenschaft nicht vorhanden.<lb/></note>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0141] Wortsippe gemeinsam angehörte, ος Fortsetzung oder Nach- folger des Suffixes, an das sich in dem einen Falle die Func- tion des Genitivs, in dem andern Falle die der nominalen Stammbildung knüpft. Es würde zu einer unerträglichen Weit- läufigkeit führen, wollte man etwa denkbaren Missverständ- nissen gegenüber dies jedesmal so umständlich, wie es hier geschehen ist, auseinandersetzen. Das kürzere Verfahren wird schon dadurch fast zur Notwendigkeit, dass man ohne das- selbe eigentlich gar nicht von Stämmen, Suffixen, Präfixen reden könnte. Denn genau anzugeben, in welcher Lautgestalt ursprünglich ein Stamm mit einer Endung verbunden wurde, ist oft unmöglich. Beides, sowohl der Stamm wie die Endung, können möglicherweise in jener unendlich frühen Periode sich von den in irgend einer Sprache wirklich überlieferten Lauten ein wenig unterschieden haben. Es ist sehr denkbar, dass in jener frühesten Zeit das plus eines Lautes, möglicherweise auch ein minus vorhanden war. In mehreren Sprachen finden wir zum Beispiel für die zweite Person Sing, die Endung si, so im Sanskrit, im Griechischen und mit kleiner Lautverän- derung im Kirchenslawischen. Daraus folgt durchaus nicht, dass diese Endung schon damals gerade so lautete, als sie sich zuerst mit dem Verbalstamme verband. So rechtfertigt es sich durchaus, dass wir auch für die indogermanische Ur- sprache von einer Endung si reden, obgleich diese Endung damals vielleicht svi oder tvi oder gar tva lautete, als sie zuerst ihre Verbindung mit einem Verbalstamme einging, ebenso aber auch für das Sanskrit und das Griechische, ohne dass man sich des mehrfach gerügten Denkfehlers dabei schuldig macht. Möglichkeiten solcher kleinen Irrthümer sind in der Sprach- wissenschaft so oft möglich, dass man eigentlich immer im Gedanken sich vorbehalten könnte: „Insofern hier nicht ein *) *) lehrten, wie mich dünkt sehr passend, continuatore nennen. Ein allgemein übliches Wort dafür ist in der deutschen Wissenschaft nicht vorhanden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/141
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/141>, abgerufen am 22.11.2024.