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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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langen Zeiträumen, die ich zu periodisiren bemüht bin, aus
den Wurzeln nach und nach vielgegliederte Wörter wurden.
Delbrück führt als Beispiel der von ihm getadelten falschen
Analyse die griechische Futurform do-the-so-metha an. Aber
niemand hat meines Wissens je behauptet, dass an einen für
sich bestehenden Stamm do-the eine für sich bestehende En-
dung so-metha oder etwa vorerst die Silbe -so und dann die
Personalendung angetreten sei. Es ist wohl nie etwas andres
behauptet worden, als dass für uns die Wurzeln so gut wie
abgeleitete Stämme in den Wörtern stecken. Allerdings,
dass die Wurzeln in den frühesten Zeiten der Sprachbildung
selbstständige Wörter waren, ist meine Meinung, dies wider-
spricht aber durchaus nicht der Behauptung, dass die Sonder-
existenz der Wurzeln in den der "Wurzelperiode" nachfolgen-
den Perioden nicht mehr bestand.

Es handelt sich vielmehr, wenn wir von Wurzeln und
Stämmen als von etwas bestehendem reden, um ein abkür-
zendes didaktisches Mittel, dessen sich alle Sprachforscher
ohne Bedenken bedienen. Kaum jemand scheut sich, den
Stamm bhara von bhara-ti aus bhar oder bhr entstehen zu
lassen. Jeder bezeichnet von einer Form wie der Genitiv
pad-as pad als Stamm, as aber als Endung. Allerdings ist
dies in gewissem Sinne eine sprachhistorische Behauptung in
abgekürztem Verfahren. Wer sagt, im griechischen pod-os
sei die erste Silbe Stamm, die zweite Genitivendung, in gen-os
sei gen Stamm oder Wurzel, os stammbildende Endung, der
behauptet damit durchaus nicht, dass erst innerhalb des Grie-
chischen der Lautcomplex gen und die Silbe os zu solcher
Function sich verbunden hätten, selbst nicht wenn er der Kürze
wegen sich so ausdrückt, die Silbe os sei an die Stammsilben
pod und gen angetreten. Gemeint ist nur, dass die erste Silbe
die Fortsetzung *) jener Stammsilbe war, die einst der ganzen

*) Mit "Fortsetzung" bezeichne ich das, was die italienischen Ge-

langen Zeiträumen, die ich zu periodisiren bemüht bin, aus
den Wurzeln nach und nach vielgegliederte Wörter wurden.
Delbrück führt als Beispiel der von ihm getadelten falschen
Analyse die griechische Futurform δο-θη-σό-μεθα an. Aber
niemand hat meines Wissens je behauptet, dass an einen für
sich bestehenden Stamm δο-θη eine für sich bestehende En-
dung σο-μεθα oder etwa vorerst die Silbe -σο und dann die
Personalendung angetreten sei. Es ist wohl nie etwas andres
behauptet worden, als dass für uns die Wurzeln so gut wie
abgeleitete Stämme in den Wörtern stecken. Allerdings,
dass die Wurzeln in den frühesten Zeiten der Sprachbildung
selbstständige Wörter waren, ist meine Meinung, dies wider-
spricht aber durchaus nicht der Behauptung, dass die Sonder-
existenz der Wurzeln in den der „Wurzelperiode“ nachfolgen-
den Perioden nicht mehr bestand.

Es handelt sich vielmehr, wenn wir von Wurzeln und
Stämmen als von etwas bestehendem reden, um ein abkür-
zendes didaktisches Mittel, dessen sich alle Sprachforscher
ohne Bedenken bedienen. Kaum jemand scheut sich, den
Stamm bhara von bhara-ti aus bhar oder bhṛ entstehen zu
lassen. Jeder bezeichnet von einer Form wie der Genitiv
pad-ás pad als Stamm, αs aber als Endung. Allerdings ist
dies in gewissem Sinne eine sprachhistorische Behauptung in
abgekürztem Verfahren. Wer sagt, im griechischen ποδ-ός
sei die erste Silbe Stamm, die zweite Genitivendung, in γέν-ος
sei γεν Stamm oder Wurzel, ος stammbildende Endung, der
behauptet damit durchaus nicht, dass erst innerhalb des Grie-
chischen der Lautcomplex γεν und die Silbe ος zu solcher
Function sich verbunden hätten, selbst nicht wenn er der Kürze
wegen sich so ausdrückt, die Silbe ος sei an die Stammsilben
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*) Mit „Fortsetzung“ bezeichne ich das, was die italienischen Ge-
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[132/0140] langen Zeiträumen, die ich zu periodisiren bemüht bin, aus den Wurzeln nach und nach vielgegliederte Wörter wurden. Delbrück führt als Beispiel der von ihm getadelten falschen Analyse die griechische Futurform δο-θη-σό-μεθα an. Aber niemand hat meines Wissens je behauptet, dass an einen für sich bestehenden Stamm δο-θη eine für sich bestehende En- dung σο-μεθα oder etwa vorerst die Silbe -σο und dann die Personalendung angetreten sei. Es ist wohl nie etwas andres behauptet worden, als dass für uns die Wurzeln so gut wie abgeleitete Stämme in den Wörtern stecken. Allerdings, dass die Wurzeln in den frühesten Zeiten der Sprachbildung selbstständige Wörter waren, ist meine Meinung, dies wider- spricht aber durchaus nicht der Behauptung, dass die Sonder- existenz der Wurzeln in den der „Wurzelperiode“ nachfolgen- den Perioden nicht mehr bestand. Es handelt sich vielmehr, wenn wir von Wurzeln und Stämmen als von etwas bestehendem reden, um ein abkür- zendes didaktisches Mittel, dessen sich alle Sprachforscher ohne Bedenken bedienen. Kaum jemand scheut sich, den Stamm bhara von bhara-ti aus bhar oder bhṛ entstehen zu lassen. Jeder bezeichnet von einer Form wie der Genitiv pad-ás pad als Stamm, αs aber als Endung. Allerdings ist dies in gewissem Sinne eine sprachhistorische Behauptung in abgekürztem Verfahren. Wer sagt, im griechischen ποδ-ός sei die erste Silbe Stamm, die zweite Genitivendung, in γέν-ος sei γεν Stamm oder Wurzel, ος stammbildende Endung, der behauptet damit durchaus nicht, dass erst innerhalb des Grie- chischen der Lautcomplex γεν und die Silbe ος zu solcher Function sich verbunden hätten, selbst nicht wenn er der Kürze wegen sich so ausdrückt, die Silbe ος sei an die Stammsilben ποδ und γεν angetreten. Gemeint ist nur, dass die erste Silbe die Fortsetzung *) jener Stammsilbe war, die einst der ganzen *) Mit „Fortsetzung“ bezeichne ich das, was die italienischen Ge-

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/140>, abgerufen am 22.11.2024.