alles Ausländische. Europa scheidet sich von Asien; in stür¬ mischen Jahrhunderten geht die alte, mit dem Morgenlande verwachsene Ordnung der Dinge zu Grunde und wie die Io¬ nier, Achäer, Dorier ihre Staaten gründen, so erhebt sich auf dem Boden pelasgischer Völkerschaften die hellenische Welt.
Daß diese Welt im Vergleiche mit allem früher Dagewese¬ nen etwas durchaus Neues sei, das zeigt sich schon aus den örtlichen Bedingungen, welche jetzt, bei dem Eindringen der geschichtbildenden Stämme ihre volle Bedeutung erhalten. Das von Meer und Gebirge durchschnittene Land war nicht bestimmt, die Geschichte des Orients fortzusetzen. Während im Oriente gleiche Culturen über Massen von Völkerstämmen ausgebreitet sind und der Glanz seiner Reiche auf Vernichtung jeder Sonder¬ berechtigung, auf gleichförmiger Vereinigung unabsehlicher Ländergebiete beruht -- so entfaltet sich hier die größte Mannigfaltigkeit auf engstem Raume. Die Möglichkeit der Abgränzung und Abwehr in scharf gegliederten Bergkantonen weckt den Trieb nach selbständigen Gauverfassungen; die Ar¬ beitsnöthigung, die der kargere Boden seinem Bewohner auf¬ legt, verhütet orientalische Erschlaffung, und anstatt daß namen¬ lose Menschenmassen durch Despotenlaunen getrieben werden, erhebt sich hier der Mensch zur geistigen Freiheit, für die er geschaffen ist.
So ist das Volk der Griechen mit dem gesammten Alter¬ thume verbunden, so löst es sich wiederum von dem Mutter¬ schoße orientalischer Geschichte ab, um den größten Fortschritt zu bezeichnen, welchen aus inwohnender Kraft die Menschheit der alten Welt gemacht hat. Der Gedanke einer harmonischen Ausbildung der geistigen und leiblichen Natur ist zuerst von den Griechen gedacht und mit rastloser Energie verwirklicht worden; sie haben gezeigt, daß der Mensch berufen sei, seinen Werken eine von Masse und Ausdehnung unabhängige Be¬ deutung zu verleihen, eine innere Größe, die auf der Selbst¬ beschränkung beruht; sie haben dem Maße über das Maßlose, dem Geist über die Materie den Sieg verschafft. Das ist die originellste That, die ein Volk gethan hat, und je mehr wir
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Die Kunſt der Hellenen.
alles Ausländiſche. Europa ſcheidet ſich von Aſien; in ſtür¬ miſchen Jahrhunderten geht die alte, mit dem Morgenlande verwachſene Ordnung der Dinge zu Grunde und wie die Io¬ nier, Achäer, Dorier ihre Staaten gründen, ſo erhebt ſich auf dem Boden pelasgiſcher Völkerſchaften die helleniſche Welt.
Daß dieſe Welt im Vergleiche mit allem früher Dageweſe¬ nen etwas durchaus Neues ſei, das zeigt ſich ſchon aus den örtlichen Bedingungen, welche jetzt, bei dem Eindringen der geſchichtbildenden Stämme ihre volle Bedeutung erhalten. Das von Meer und Gebirge durchſchnittene Land war nicht beſtimmt, die Geſchichte des Orients fortzuſetzen. Während im Oriente gleiche Culturen über Maſſen von Völkerſtämmen ausgebreitet ſind und der Glanz ſeiner Reiche auf Vernichtung jeder Sonder¬ berechtigung, auf gleichförmiger Vereinigung unabſehlicher Ländergebiete beruht — ſo entfaltet ſich hier die größte Mannigfaltigkeit auf engſtem Raume. Die Möglichkeit der Abgränzung und Abwehr in ſcharf gegliederten Bergkantonen weckt den Trieb nach ſelbſtändigen Gauverfaſſungen; die Ar¬ beitsnöthigung, die der kargere Boden ſeinem Bewohner auf¬ legt, verhütet orientaliſche Erſchlaffung, und anſtatt daß namen¬ loſe Menſchenmaſſen durch Despotenlaunen getrieben werden, erhebt ſich hier der Menſch zur geiſtigen Freiheit, für die er geſchaffen iſt.
So iſt das Volk der Griechen mit dem geſammten Alter¬ thume verbunden, ſo löſt es ſich wiederum von dem Mutter¬ ſchoße orientaliſcher Geſchichte ab, um den größten Fortſchritt zu bezeichnen, welchen aus inwohnender Kraft die Menſchheit der alten Welt gemacht hat. Der Gedanke einer harmoniſchen Ausbildung der geiſtigen und leiblichen Natur iſt zuerſt von den Griechen gedacht und mit raſtloſer Energie verwirklicht worden; ſie haben gezeigt, daß der Menſch berufen ſei, ſeinen Werken eine von Maſſe und Ausdehnung unabhängige Be¬ deutung zu verleihen, eine innere Größe, die auf der Selbſt¬ beſchränkung beruht; ſie haben dem Maße über das Maßloſe, dem Geiſt über die Materie den Sieg verſchafft. Das iſt die originellſte That, die ein Volk gethan hat, und je mehr wir
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Die Kunſt der Hellenen.
alles Ausländiſche. Europa ſcheidet ſich von Aſien; in ſtür¬
miſchen Jahrhunderten geht die alte, mit dem Morgenlande
verwachſene Ordnung der Dinge zu Grunde und wie die Io¬
nier, Achäer, Dorier ihre Staaten gründen, ſo erhebt ſich auf
dem Boden pelasgiſcher Völkerſchaften die helleniſche Welt.
Daß dieſe Welt im Vergleiche mit allem früher Dageweſe¬
nen etwas durchaus Neues ſei, das zeigt ſich ſchon aus den
örtlichen Bedingungen, welche jetzt, bei dem Eindringen der
geſchichtbildenden Stämme ihre volle Bedeutung erhalten. Das
von Meer und Gebirge durchſchnittene Land war nicht beſtimmt,
die Geſchichte des Orients fortzuſetzen. Während im Oriente
gleiche Culturen über Maſſen von Völkerſtämmen ausgebreitet
ſind und der Glanz ſeiner Reiche auf Vernichtung jeder Sonder¬
berechtigung, auf gleichförmiger Vereinigung unabſehlicher
Ländergebiete beruht — ſo entfaltet ſich hier die größte
Mannigfaltigkeit auf engſtem Raume. Die Möglichkeit der
Abgränzung und Abwehr in ſcharf gegliederten Bergkantonen
weckt den Trieb nach ſelbſtändigen Gauverfaſſungen; die Ar¬
beitsnöthigung, die der kargere Boden ſeinem Bewohner auf¬
legt, verhütet orientaliſche Erſchlaffung, und anſtatt daß namen¬
loſe Menſchenmaſſen durch Despotenlaunen getrieben werden,
erhebt ſich hier der Menſch zur geiſtigen Freiheit, für die er
geſchaffen iſt.
So iſt das Volk der Griechen mit dem geſammten Alter¬
thume verbunden, ſo löſt es ſich wiederum von dem Mutter¬
ſchoße orientaliſcher Geſchichte ab, um den größten Fortſchritt
zu bezeichnen, welchen aus inwohnender Kraft die Menſchheit
der alten Welt gemacht hat. Der Gedanke einer harmoniſchen
Ausbildung der geiſtigen und leiblichen Natur iſt zuerſt von
den Griechen gedacht und mit raſtloſer Energie verwirklicht
worden; ſie haben gezeigt, daß der Menſch berufen ſei, ſeinen
Werken eine von Maſſe und Ausdehnung unabhängige Be¬
deutung zu verleihen, eine innere Größe, die auf der Selbſt¬
beſchränkung beruht; ſie haben dem Maße über das Maßloſe,
dem Geiſt über die Materie den Sieg verſchafft. Das iſt die
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/99>, abgerufen am 22.07.2024.
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