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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der Weltgang der griechischen Cultur.
zu machen gewußt; aber in der Litteratur war es doch das
romanische Blut, welches die Stellung der Franzosen zur an¬
tiken Cultur vorzugsweise bestimmte. Ihre mittelalterliche
Poesie hatte sich erschöpft, und ehe sie dazu gelangten, aus
einheimischen Keimen eine neue Kunst zu entwickeln, welche für
die verschiedenartigen Bestandtheile des Volks eine vereini¬
gende, nationale Geltung gewinnen konnte, wurden die Muster¬
werke des Alterthums ihnen dargeboten. Die innere und
äußere Vollendung derselben machte solchen Eindruck, daß man
durch nahen Anschluß an diese Vorbilder am sichersten zur
Gründung einer eigenen klassischen Litteratur zu gelangen
hoffte. Es war aber vorzugsweise das römische Alterthum,
welches, als das den Romanen nähere und verständlichere,
diese Wirkung übte; man nahm Virgil statt Homer, Seneca
statt Sophokles zum Vorbilde. Die Kirche, welche den weiter
und tiefer greifenden Einfluß des griechischen Studiums fürch¬
tete, begünstigte diese Richtung und eben so der angeborene
Sinn des Volks, welcher feste Normen von praktischer An¬
wendbarkeit suchte, namentlich in der schwierigsten Kunstgat¬
tung, im Drama, das von allen am meisten Schule und Er¬
fahrung verlangt. Obgleich man also gerade in Frankreich
die Erneuerung der alten Kunst die Wiedergeburt nannte, ist
es doch zu einem wirklichen Wiederaufleben derselben nicht
gekommen, sondern zu einer äußerlichen Nachahmung, welche
eine vielfach irregeleitete und mißverständliche war. Darum
hat sie auch keine freie Entwickelung zur Folge gehabt, sondern
eine Dienstbarkeit des Geistes, welcher sich selbst durch falsche
Autoritäten die lästigsten Fesseln anlegte. Es hat nicht an
Widerspruch noch an entschiedener Auflehnung gegen diesen
Regelzwang gefehlt, aber eine Versöhnung zwischen den Gegen¬
sätzen ist nicht zu Stande gekommen.

Die anderen Völker verhielten sich zurückhaltender gegen
die neue Ausbreitung der antiken Cultur, so die Spanier,
welche aus mancherlei Gründen ihren römischen Vorfahren
entfremdeter und den italiänischen Einflüssen unzugänglicher
waren. Am unabhängigsten standen die germanischen Nationen

Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
zu machen gewußt; aber in der Litteratur war es doch das
romaniſche Blut, welches die Stellung der Franzoſen zur an¬
tiken Cultur vorzugsweiſe beſtimmte. Ihre mittelalterliche
Poeſie hatte ſich erſchöpft, und ehe ſie dazu gelangten, aus
einheimiſchen Keimen eine neue Kunſt zu entwickeln, welche für
die verſchiedenartigen Beſtandtheile des Volks eine vereini¬
gende, nationale Geltung gewinnen konnte, wurden die Muſter¬
werke des Alterthums ihnen dargeboten. Die innere und
äußere Vollendung derſelben machte ſolchen Eindruck, daß man
durch nahen Anſchluß an dieſe Vorbilder am ſicherſten zur
Gründung einer eigenen klaſſiſchen Litteratur zu gelangen
hoffte. Es war aber vorzugsweiſe das römiſche Alterthum,
welches, als das den Romanen nähere und verſtändlichere,
dieſe Wirkung übte; man nahm Virgil ſtatt Homer, Seneca
ſtatt Sophokles zum Vorbilde. Die Kirche, welche den weiter
und tiefer greifenden Einfluß des griechiſchen Studiums fürch¬
tete, begünſtigte dieſe Richtung und eben ſo der angeborene
Sinn des Volks, welcher feſte Normen von praktiſcher An¬
wendbarkeit ſuchte, namentlich in der ſchwierigſten Kunſtgat¬
tung, im Drama, das von allen am meiſten Schule und Er¬
fahrung verlangt. Obgleich man alſo gerade in Frankreich
die Erneuerung der alten Kunſt die Wiedergeburt nannte, iſt
es doch zu einem wirklichen Wiederaufleben derſelben nicht
gekommen, ſondern zu einer äußerlichen Nachahmung, welche
eine vielfach irregeleitete und mißverſtändliche war. Darum
hat ſie auch keine freie Entwickelung zur Folge gehabt, ſondern
eine Dienſtbarkeit des Geiſtes, welcher ſich ſelbſt durch falſche
Autoritäten die läſtigſten Feſſeln anlegte. Es hat nicht an
Widerſpruch noch an entſchiedener Auflehnung gegen dieſen
Regelzwang gefehlt, aber eine Verſöhnung zwiſchen den Gegen¬
ſätzen iſt nicht zu Stande gekommen.

Die anderen Völker verhielten ſich zurückhaltender gegen
die neue Ausbreitung der antiken Cultur, ſo die Spanier,
welche aus mancherlei Gründen ihren römiſchen Vorfahren
entfremdeter und den italiäniſchen Einflüſſen unzugänglicher
waren. Am unabhängigſten ſtanden die germaniſchen Nationen

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[73/0089] Der Weltgang der griechiſchen Cultur. zu machen gewußt; aber in der Litteratur war es doch das romaniſche Blut, welches die Stellung der Franzoſen zur an¬ tiken Cultur vorzugsweiſe beſtimmte. Ihre mittelalterliche Poeſie hatte ſich erſchöpft, und ehe ſie dazu gelangten, aus einheimiſchen Keimen eine neue Kunſt zu entwickeln, welche für die verſchiedenartigen Beſtandtheile des Volks eine vereini¬ gende, nationale Geltung gewinnen konnte, wurden die Muſter¬ werke des Alterthums ihnen dargeboten. Die innere und äußere Vollendung derſelben machte ſolchen Eindruck, daß man durch nahen Anſchluß an dieſe Vorbilder am ſicherſten zur Gründung einer eigenen klaſſiſchen Litteratur zu gelangen hoffte. Es war aber vorzugsweiſe das römiſche Alterthum, welches, als das den Romanen nähere und verſtändlichere, dieſe Wirkung übte; man nahm Virgil ſtatt Homer, Seneca ſtatt Sophokles zum Vorbilde. Die Kirche, welche den weiter und tiefer greifenden Einfluß des griechiſchen Studiums fürch¬ tete, begünſtigte dieſe Richtung und eben ſo der angeborene Sinn des Volks, welcher feſte Normen von praktiſcher An¬ wendbarkeit ſuchte, namentlich in der ſchwierigſten Kunſtgat¬ tung, im Drama, das von allen am meiſten Schule und Er¬ fahrung verlangt. Obgleich man alſo gerade in Frankreich die Erneuerung der alten Kunſt die Wiedergeburt nannte, iſt es doch zu einem wirklichen Wiederaufleben derſelben nicht gekommen, ſondern zu einer äußerlichen Nachahmung, welche eine vielfach irregeleitete und mißverſtändliche war. Darum hat ſie auch keine freie Entwickelung zur Folge gehabt, ſondern eine Dienſtbarkeit des Geiſtes, welcher ſich ſelbſt durch falſche Autoritäten die läſtigſten Feſſeln anlegte. Es hat nicht an Widerſpruch noch an entſchiedener Auflehnung gegen dieſen Regelzwang gefehlt, aber eine Verſöhnung zwiſchen den Gegen¬ ſätzen iſt nicht zu Stande gekommen. Die anderen Völker verhielten ſich zurückhaltender gegen die neue Ausbreitung der antiken Cultur, ſo die Spanier, welche aus mancherlei Gründen ihren römiſchen Vorfahren entfremdeter und den italiäniſchen Einflüſſen unzugänglicher waren. Am unabhängigſten ſtanden die germaniſchen Nationen

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/89>, abgerufen am 23.11.2024.