Schriftsteller zwischen Altem und Neuem seinen eignen Weg, und so viel Talent sich darin auch offenbart, so ist die künst¬ liche Haltung des Neugriechischen doch für diese Entwickelung einer nationalen Litteratur in hohem Grade hemmend; es fehlt ihr die frische Unmittelbarkeit einer im Volke erwachsenen Sprache, wie sie doch allein im Stande ist, das Organ na¬ tionaler Dichtung und Rede zu sein.
So hat die Wiedergeburt des griechischen Volks mit vielen und eigenthümlichen Schwierigkeiten innerer und äußerer Art zu kämpfen. Eine glückliche Ueberwindung ist nur dann zu hoffen, wenn das Volk inne wird, daß es nicht vorwärts kommen kann, wenn es seine beste Kraft in Parteireibungen zusetzt und sein höchstes Interesse den Fragen einer unstäten Tagespolitik zuwendet. Es kann von den großen Zielen, die dem Volke vorschweben, nichts gelingen, wenn es sich nicht mit vollem Ernste von Grund auf sittlich und religiös erneuert, durch strenge Zucht in Schule und Haus eine arbeitsame und pflichttreue Jugend erzieht und so allmählich den gesunden Kern einer griechischen Nationalität bildet. Denn man kann es den heutigen Bewohnern der klassischen Länder nicht ernsthaft genug vorstellen, daß es eine arge Täuschung sei, wenn Völker, welche durch Elend und Schmach aller Art Jahrhunderte lang gesunken sind, auf einmal durch ein hastiges Greifen nach äußeren Formen und modernen Staatseinrichtungen ohne innere Erneuerung und sittliche Wiedergeburt hohe nationale Ziele erreichen zu können glauben.
Wer als Freund des Alterthums nach Hellas kommt, wie ängstlich verschließt er sein Ohr dem unheimlichen Parteige¬ zänke der Gegenwart! Ernst und schweigsam wandelt er über die Stätten der alten Geschichte; es ist, als fürchte er durch lose Rede die Geister derer zu verletzen, die hier einst so Großes gedacht und geschaffen haben. Ein tiefer Ernst liegt über Land und Meer ausgegossen, und, wenn das Sonnenlicht erloschen ist, so blicken uns die grauen Felsberge von Attica wie entseelte Gestalten an, deren Wiedererweckung zu neuem Leben nur durch ein Wunder gelingen könne. Der Gang der
Das alte und neue Griechenland.
Schriftſteller zwiſchen Altem und Neuem ſeinen eignen Weg, und ſo viel Talent ſich darin auch offenbart, ſo iſt die künſt¬ liche Haltung des Neugriechiſchen doch für dieſe Entwickelung einer nationalen Litteratur in hohem Grade hemmend; es fehlt ihr die friſche Unmittelbarkeit einer im Volke erwachſenen Sprache, wie ſie doch allein im Stande iſt, das Organ na¬ tionaler Dichtung und Rede zu ſein.
So hat die Wiedergeburt des griechiſchen Volks mit vielen und eigenthümlichen Schwierigkeiten innerer und äußerer Art zu kämpfen. Eine glückliche Ueberwindung iſt nur dann zu hoffen, wenn das Volk inne wird, daß es nicht vorwärts kommen kann, wenn es ſeine beſte Kraft in Parteireibungen zuſetzt und ſein höchſtes Intereſſe den Fragen einer unſtäten Tagespolitik zuwendet. Es kann von den großen Zielen, die dem Volke vorſchweben, nichts gelingen, wenn es ſich nicht mit vollem Ernſte von Grund auf ſittlich und religiös erneuert, durch ſtrenge Zucht in Schule und Haus eine arbeitſame und pflichttreue Jugend erzieht und ſo allmählich den geſunden Kern einer griechiſchen Nationalität bildet. Denn man kann es den heutigen Bewohnern der klaſſiſchen Länder nicht ernſthaft genug vorſtellen, daß es eine arge Täuſchung ſei, wenn Völker, welche durch Elend und Schmach aller Art Jahrhunderte lang geſunken ſind, auf einmal durch ein haſtiges Greifen nach äußeren Formen und modernen Staatseinrichtungen ohne innere Erneuerung und ſittliche Wiedergeburt hohe nationale Ziele erreichen zu können glauben.
Wer als Freund des Alterthums nach Hellas kommt, wie ängſtlich verſchließt er ſein Ohr dem unheimlichen Parteige¬ zänke der Gegenwart! Ernſt und ſchweigſam wandelt er über die Stätten der alten Geſchichte; es iſt, als fürchte er durch loſe Rede die Geiſter derer zu verletzen, die hier einſt ſo Großes gedacht und geſchaffen haben. Ein tiefer Ernſt liegt über Land und Meer ausgegoſſen, und, wenn das Sonnenlicht erloſchen iſt, ſo blicken uns die grauen Felsberge von Attica wie entſeelte Geſtalten an, deren Wiedererweckung zu neuem Leben nur durch ein Wunder gelingen könne. Der Gang der
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Das alte und neue Griechenland.
Schriftſteller zwiſchen Altem und Neuem ſeinen eignen Weg,
und ſo viel Talent ſich darin auch offenbart, ſo iſt die künſt¬
liche Haltung des Neugriechiſchen doch für dieſe Entwickelung
einer nationalen Litteratur in hohem Grade hemmend; es fehlt
ihr die friſche Unmittelbarkeit einer im Volke erwachſenen
Sprache, wie ſie doch allein im Stande iſt, das Organ na¬
tionaler Dichtung und Rede zu ſein.
So hat die Wiedergeburt des griechiſchen Volks mit
vielen und eigenthümlichen Schwierigkeiten innerer und äußerer
Art zu kämpfen. Eine glückliche Ueberwindung iſt nur dann
zu hoffen, wenn das Volk inne wird, daß es nicht vorwärts
kommen kann, wenn es ſeine beſte Kraft in Parteireibungen
zuſetzt und ſein höchſtes Intereſſe den Fragen einer unſtäten
Tagespolitik zuwendet. Es kann von den großen Zielen, die
dem Volke vorſchweben, nichts gelingen, wenn es ſich nicht
mit vollem Ernſte von Grund auf ſittlich und religiös erneuert,
durch ſtrenge Zucht in Schule und Haus eine arbeitſame und
pflichttreue Jugend erzieht und ſo allmählich den geſunden Kern
einer griechiſchen Nationalität bildet. Denn man kann es
den heutigen Bewohnern der klaſſiſchen Länder nicht ernſthaft
genug vorſtellen, daß es eine arge Täuſchung ſei, wenn Völker,
welche durch Elend und Schmach aller Art Jahrhunderte lang
geſunken ſind, auf einmal durch ein haſtiges Greifen nach
äußeren Formen und modernen Staatseinrichtungen ohne
innere Erneuerung und ſittliche Wiedergeburt hohe nationale
Ziele erreichen zu können glauben.
Wer als Freund des Alterthums nach Hellas kommt, wie
ängſtlich verſchließt er ſein Ohr dem unheimlichen Parteige¬
zänke der Gegenwart! Ernſt und ſchweigſam wandelt er über
die Stätten der alten Geſchichte; es iſt, als fürchte er durch
loſe Rede die Geiſter derer zu verletzen, die hier einſt ſo
Großes gedacht und geſchaffen haben. Ein tiefer Ernſt liegt
über Land und Meer ausgegoſſen, und, wenn das Sonnenlicht
erloſchen iſt, ſo blicken uns die grauen Felsberge von Attica
wie entſeelte Geſtalten an, deren Wiedererweckung zu neuem
Leben nur durch ein Wunder gelingen könne. Der Gang der
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/55>, abgerufen am 22.07.2024.
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