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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
die See, deren frischen Anhauch man hier genoß. Hier saßen
die alten Kranaer mit ihrem Boden gleichsam verwachsen,
eng zusammengeschaart in knapp gemessenen Wohnräumen,
deren Maßstab Einem wieder vor Augen tritt, wenn man die
Straßen von Pompeji durchwandert und durch die offenen
Hausthüren in die bescheidenen Stuben eintritt. Die Quelle
am Ilissos setzte diese älteste Bevölkerung mit dem oberen
Lande in Verbindung; uralte Altarplätze vereinigten an den
Festtagen die Bewohner des Küsten- und des Binnenlandes,
lange ehe die Götter bildlich verehrt und ihre Tempel auf
der Burghöhe errichtet waren. Dann wurde beim Fortschritte
städtischer Entwickelung die Burg der religiöse und politische
Mittelpunkt der noch immer seewärts gerichteten Stadt, bis
nach dem Sturze der alten Geschlechterherrschaft eine neue
Epoche damit eintrat, daß der Markt und mit ihm der Schwer¬
punkt des städtischen Lebens nach Norden verlegt wurde, von
den rauhen Felshöhen in die bequemere Niederung, aus dem
Adelsquartiere nach dem Sitze bürgerlicher Industrie. Die
Zeit der Kämpfe verlangt eine neue Organisation. Alt- und
Neu-Athen wird zu einer großen Festung vereinigt und The¬
mistokles, der aus seiner Wohnung in Melite von früh an
die ganze Stadtlage überblicken konnte, schafft dies bewunderns¬
würdige Mauersystem, eines der denkwürdigsten und folgen¬
reichsten Menschenwerke. Die Hügelrücken, die sich von Natur
schon gleichsam verlangend zum Meeresrande vorschieben,
werden die Träger der Mauerarme, welche die Häfen in die
städtische Befestigung hereinziehen. Die zur Seebeherrscherin
gemachte Stadt wird dann durch die Prachtbauten des Pheidias
gekrönt. So weit die Entwickelung der Stadt aus eigner
Kraft und einheimischen Mitteln. Dann lebt sie von der
Gunst philhellenischer Fürsten, die sich nicht besser ehren zu
können glauben, als wenn sie Athen schmücken, der Ptolemäer,
Attaliden, Seleuciden, endlich der römischen Weltherrscher.
Die Mosaikböden des Hadrianischen Neu-Athen, das sich wie¬
der zur Kalirrhoe, der alten Nährerin der Stadt, hinabzog,
sind gerade in den letzten Wochen aus dem Schutte hervor¬

Das alte und neue Griechenland.
die See, deren friſchen Anhauch man hier genoß. Hier ſaßen
die alten Kranaer mit ihrem Boden gleichſam verwachſen,
eng zuſammengeſchaart in knapp gemeſſenen Wohnräumen,
deren Maßſtab Einem wieder vor Augen tritt, wenn man die
Straßen von Pompeji durchwandert und durch die offenen
Hausthüren in die beſcheidenen Stuben eintritt. Die Quelle
am Iliſſos ſetzte dieſe älteſte Bevölkerung mit dem oberen
Lande in Verbindung; uralte Altarplätze vereinigten an den
Feſttagen die Bewohner des Küſten- und des Binnenlandes,
lange ehe die Götter bildlich verehrt und ihre Tempel auf
der Burghöhe errichtet waren. Dann wurde beim Fortſchritte
ſtädtiſcher Entwickelung die Burg der religiöſe und politiſche
Mittelpunkt der noch immer ſeewärts gerichteten Stadt, bis
nach dem Sturze der alten Geſchlechterherrſchaft eine neue
Epoche damit eintrat, daß der Markt und mit ihm der Schwer¬
punkt des ſtädtiſchen Lebens nach Norden verlegt wurde, von
den rauhen Felshöhen in die bequemere Niederung, aus dem
Adelsquartiere nach dem Sitze bürgerlicher Induſtrie. Die
Zeit der Kämpfe verlangt eine neue Organiſation. Alt- und
Neu-Athen wird zu einer großen Feſtung vereinigt und The¬
miſtokles, der aus ſeiner Wohnung in Melite von früh an
die ganze Stadtlage überblicken konnte, ſchafft dies bewunderns¬
würdige Mauerſyſtem, eines der denkwürdigſten und folgen¬
reichſten Menſchenwerke. Die Hügelrücken, die ſich von Natur
ſchon gleichſam verlangend zum Meeresrande vorſchieben,
werden die Träger der Mauerarme, welche die Häfen in die
ſtädtiſche Befeſtigung hereinziehen. Die zur Seebeherrſcherin
gemachte Stadt wird dann durch die Prachtbauten des Pheidias
gekrönt. So weit die Entwickelung der Stadt aus eigner
Kraft und einheimiſchen Mitteln. Dann lebt ſie von der
Gunſt philhelleniſcher Fürſten, die ſich nicht beſſer ehren zu
können glauben, als wenn ſie Athen ſchmücken, der Ptolemäer,
Attaliden, Seleuciden, endlich der römiſchen Weltherrſcher.
Die Moſaikböden des Hadrianiſchen Neu-Athen, das ſich wie¬
der zur Kalirrhoe, der alten Nährerin der Stadt, hinabzog,
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[32/0048] Das alte und neue Griechenland. die See, deren friſchen Anhauch man hier genoß. Hier ſaßen die alten Kranaer mit ihrem Boden gleichſam verwachſen, eng zuſammengeſchaart in knapp gemeſſenen Wohnräumen, deren Maßſtab Einem wieder vor Augen tritt, wenn man die Straßen von Pompeji durchwandert und durch die offenen Hausthüren in die beſcheidenen Stuben eintritt. Die Quelle am Iliſſos ſetzte dieſe älteſte Bevölkerung mit dem oberen Lande in Verbindung; uralte Altarplätze vereinigten an den Feſttagen die Bewohner des Küſten- und des Binnenlandes, lange ehe die Götter bildlich verehrt und ihre Tempel auf der Burghöhe errichtet waren. Dann wurde beim Fortſchritte ſtädtiſcher Entwickelung die Burg der religiöſe und politiſche Mittelpunkt der noch immer ſeewärts gerichteten Stadt, bis nach dem Sturze der alten Geſchlechterherrſchaft eine neue Epoche damit eintrat, daß der Markt und mit ihm der Schwer¬ punkt des ſtädtiſchen Lebens nach Norden verlegt wurde, von den rauhen Felshöhen in die bequemere Niederung, aus dem Adelsquartiere nach dem Sitze bürgerlicher Induſtrie. Die Zeit der Kämpfe verlangt eine neue Organiſation. Alt- und Neu-Athen wird zu einer großen Feſtung vereinigt und The¬ miſtokles, der aus ſeiner Wohnung in Melite von früh an die ganze Stadtlage überblicken konnte, ſchafft dies bewunderns¬ würdige Mauerſyſtem, eines der denkwürdigſten und folgen¬ reichſten Menſchenwerke. Die Hügelrücken, die ſich von Natur ſchon gleichſam verlangend zum Meeresrande vorſchieben, werden die Träger der Mauerarme, welche die Häfen in die ſtädtiſche Befeſtigung hereinziehen. Die zur Seebeherrſcherin gemachte Stadt wird dann durch die Prachtbauten des Pheidias gekrönt. So weit die Entwickelung der Stadt aus eigner Kraft und einheimiſchen Mitteln. Dann lebt ſie von der Gunſt philhelleniſcher Fürſten, die ſich nicht beſſer ehren zu können glauben, als wenn ſie Athen ſchmücken, der Ptolemäer, Attaliden, Seleuciden, endlich der römiſchen Weltherrſcher. Die Moſaikböden des Hadrianiſchen Neu-Athen, das ſich wie¬ der zur Kalirrhoe, der alten Nährerin der Stadt, hinabzog, ſind gerade in den letzten Wochen aus dem Schutte hervor¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/48>, abgerufen am 24.11.2024.