Athen an geschichtlicher Bedeutung die Städte am Vesuv übertrifft.
Auch an einem zweiten Orte hat man den Boden befragt und nicht umsonst. Es schwebte nämlich eine für den Historiker und Philologen peinliche Ungewißheit über die Lage des Orts, wo sich die Athener seit ältesten Zeiten als Bürgerschaft ver¬ sammelten. Mir schien längst die gewöhnliche Annahme un¬ haltbar, aber sie hatte fanatische Anhänger und es galt den Versuch, statt auf der Oberfläche des heutigen Bodens Jahr aus Jahr ein fortzudisputiren, auf dem des ursprünglichen eine entscheidende Antwort zu finden. Sie ist erfolgt und dadurch über die eigentliche Bedeutung der ältesten und ehrwürdigsten Bauanlage Athens eine unzweifelhafte Aufklärung gewonnen.
Durch solche Arbeiten ist es möglich, auf dem Boden der alten Wohnplätze heimisch zu werden und dieselben auf wissen¬ schaftlichem Wege wieder herzustellen. Versuche dieser Art mögen dem Laien mißlich, ja abenteuerlich vorkommen, und er mag lächelnd darauf hinweisen, welchen Erfolg es haben könnte, wenn Einer nach Jahrtausenden eine Stadt der gegen¬ wärtigen Welt aus unscheinbaren und vereinzelten Bautrüm¬ mern wieder reconstruiren wollte. Indessen ist es bei den Städten der Griechen doch anders; sie haben in ihren felsigen Wohnplätzen sich also eingerichtet, daß dieselben in vollem Maße zu Denkmälern ihrer Existenz geworden und die Spuren derselben unverkennbar sind; der Boden wird also un¬ mittelbar zu einer Quelle historischer Erkenntniß, zu einer Urkunde der Geschichte. Können wir nicht -- um auch hier von der wichtigsten aller Stätten des Alterthums zu reden --, wenn wir den Boden Athens durchwandern, der ganzen Ent¬ wickelung der Stadt, der ganzen Bewegung ihrer Geschichte in den Hauptstufen Schritt für Schritt folgen? Und zwar sind auch hier, wie an so vielen Orten, die ältesten Zeiten die am Deutlichsten bezeugten. Wir sehen die Spuren zahl¬ loser Felswohnungen, welche, von Cisternen, Treppen, Terras¬ sen, Altären, Gräbern umringt, die südlichen und südwestlichen Abhänge der Hügel Athens bedecken, mit freiem Blicke auf
Das alte und neue Griechenland.
Athen an geſchichtlicher Bedeutung die Städte am Veſuv übertrifft.
Auch an einem zweiten Orte hat man den Boden befragt und nicht umſonſt. Es ſchwebte nämlich eine für den Hiſtoriker und Philologen peinliche Ungewißheit über die Lage des Orts, wo ſich die Athener ſeit älteſten Zeiten als Bürgerſchaft ver¬ ſammelten. Mir ſchien längſt die gewöhnliche Annahme un¬ haltbar, aber ſie hatte fanatiſche Anhänger und es galt den Verſuch, ſtatt auf der Oberfläche des heutigen Bodens Jahr aus Jahr ein fortzudisputiren, auf dem des urſprünglichen eine entſcheidende Antwort zu finden. Sie iſt erfolgt und dadurch über die eigentliche Bedeutung der älteſten und ehrwürdigſten Bauanlage Athens eine unzweifelhafte Aufklärung gewonnen.
Durch ſolche Arbeiten iſt es möglich, auf dem Boden der alten Wohnplätze heimiſch zu werden und dieſelben auf wiſſen¬ ſchaftlichem Wege wieder herzuſtellen. Verſuche dieſer Art mögen dem Laien mißlich, ja abenteuerlich vorkommen, und er mag lächelnd darauf hinweiſen, welchen Erfolg es haben könnte, wenn Einer nach Jahrtauſenden eine Stadt der gegen¬ wärtigen Welt aus unſcheinbaren und vereinzelten Bautrüm¬ mern wieder reconſtruiren wollte. Indeſſen iſt es bei den Städten der Griechen doch anders; ſie haben in ihren felſigen Wohnplätzen ſich alſo eingerichtet, daß dieſelben in vollem Maße zu Denkmälern ihrer Exiſtenz geworden und die Spuren derſelben unverkennbar ſind; der Boden wird alſo un¬ mittelbar zu einer Quelle hiſtoriſcher Erkenntniß, zu einer Urkunde der Geſchichte. Können wir nicht — um auch hier von der wichtigſten aller Stätten des Alterthums zu reden —, wenn wir den Boden Athens durchwandern, der ganzen Ent¬ wickelung der Stadt, der ganzen Bewegung ihrer Geſchichte in den Hauptſtufen Schritt für Schritt folgen? Und zwar ſind auch hier, wie an ſo vielen Orten, die älteſten Zeiten die am Deutlichſten bezeugten. Wir ſehen die Spuren zahl¬ loſer Felswohnungen, welche, von Ciſternen, Treppen, Terraſ¬ ſen, Altären, Gräbern umringt, die ſüdlichen und ſüdweſtlichen Abhänge der Hügel Athens bedecken, mit freiem Blicke auf
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Das alte und neue Griechenland.
Athen an geſchichtlicher Bedeutung die Städte am Veſuv
übertrifft.
Auch an einem zweiten Orte hat man den Boden befragt
und nicht umſonſt. Es ſchwebte nämlich eine für den Hiſtoriker
und Philologen peinliche Ungewißheit über die Lage des Orts,
wo ſich die Athener ſeit älteſten Zeiten als Bürgerſchaft ver¬
ſammelten. Mir ſchien längſt die gewöhnliche Annahme un¬
haltbar, aber ſie hatte fanatiſche Anhänger und es galt den
Verſuch, ſtatt auf der Oberfläche des heutigen Bodens Jahr
aus Jahr ein fortzudisputiren, auf dem des urſprünglichen eine
entſcheidende Antwort zu finden. Sie iſt erfolgt und dadurch
über die eigentliche Bedeutung der älteſten und ehrwürdigſten
Bauanlage Athens eine unzweifelhafte Aufklärung gewonnen.
Durch ſolche Arbeiten iſt es möglich, auf dem Boden der
alten Wohnplätze heimiſch zu werden und dieſelben auf wiſſen¬
ſchaftlichem Wege wieder herzuſtellen. Verſuche dieſer Art
mögen dem Laien mißlich, ja abenteuerlich vorkommen, und
er mag lächelnd darauf hinweiſen, welchen Erfolg es haben
könnte, wenn Einer nach Jahrtauſenden eine Stadt der gegen¬
wärtigen Welt aus unſcheinbaren und vereinzelten Bautrüm¬
mern wieder reconſtruiren wollte. Indeſſen iſt es bei den
Städten der Griechen doch anders; ſie haben in ihren felſigen
Wohnplätzen ſich alſo eingerichtet, daß dieſelben in vollem
Maße zu Denkmälern ihrer Exiſtenz geworden und die
Spuren derſelben unverkennbar ſind; der Boden wird alſo un¬
mittelbar zu einer Quelle hiſtoriſcher Erkenntniß, zu einer
Urkunde der Geſchichte. Können wir nicht — um auch hier
von der wichtigſten aller Stätten des Alterthums zu reden —,
wenn wir den Boden Athens durchwandern, der ganzen Ent¬
wickelung der Stadt, der ganzen Bewegung ihrer Geſchichte
in den Hauptſtufen Schritt für Schritt folgen? Und zwar
ſind auch hier, wie an ſo vielen Orten, die älteſten Zeiten
die am Deutlichſten bezeugten. Wir ſehen die Spuren zahl¬
loſer Felswohnungen, welche, von Ciſternen, Treppen, Terraſ¬
ſen, Altären, Gräbern umringt, die ſüdlichen und ſüdweſtlichen
Abhänge der Hügel Athens bedecken, mit freiem Blicke auf
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/47>, abgerufen am 24.11.2024.
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