Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Das alte und neue Griechenland. begonnen, die man füglich derjenigen vergleichen kann, welchein Betreff natürlicher Organismen die physiologische genannt wird, d. h. eine Betrachtung, welche sich nicht begnügt, die einzelnen Bauglieder zu messen, zu benennen und zu beschreiben, sondern die Funktionen der einzelnen Glieder; die Bestimmung der verschiedenen Räumlichkeiten und ihre Benutzung zu reli¬ giösen und staatlichen Zwecken erforscht. Dadurch sind eine Menge neuer Gesichtspunkte hervorgetreten; nun stellt man ganz andere Fragen an die erhaltenen Monumente und erhält neue Antworten und Aufschlüsse. Erschwert sind diese For¬ schungen dadurch, daß die Gebäude der Akropolis nicht bloß durch Explosionen und Erderschütterungen gelitten haben, son¬ dern auch dadurch, daß sie bei Einführung des Christenthums auf die allergewaltsamste Weise umgestaltet worden sind. Aber dennoch finden sich noch heute auf dem so vielfach mißhandelten Fußboden des Parthenon in schwachen und allmählich ver¬ löschenden, aber jetzt noch unverkennbaren Linien die Spuren der alten Säulenhallen im Innern der Cella; es finden sich die Spuren der Querwände, der alten Schwellen und Thüröff¬ nungen, welche für die Kenntniß der ursprünglichen Raumein¬ theilung so wichtig sind. Draußen an den Säulenhallen sieht man die Spuren der Vergitterung, welche zur Aufbewahrung des Staatsschatzes nöthig war, und selbst die vorperikleischen Bauwerke können in zahlreichen Bruchstücken erkannt und ge¬ würdigt werden. So manches Räthselhafte also auch im Ein¬ zelnen noch übrig bleiben mag, indem man entweder That¬ sachen wahrnimmt, die man nicht zu erklären vermag, oder über gewisse Theile, der Gebäude unter den Trümmern ver¬ geblich nach Auskunft gebenden Ueberresten sucht, so haben doch die neuesten Untersuchungen von Neuem gezeigt, wie un¬ erschöpflich die Fundgrube von Belehrung ist, welche das Trümmerfeld der Akropolis darbietet. Dann, von den großen Monumenten abgesehen, die Fülle Das alte und neue Griechenland. begonnen, die man füglich derjenigen vergleichen kann, welchein Betreff natürlicher Organismen die phyſiologiſche genannt wird, d. h. eine Betrachtung, welche ſich nicht begnügt, die einzelnen Bauglieder zu meſſen, zu benennen und zu beſchreiben, ſondern die Funktionen der einzelnen Glieder; die Beſtimmung der verſchiedenen Räumlichkeiten und ihre Benutzung zu reli¬ giöſen und ſtaatlichen Zwecken erforſcht. Dadurch ſind eine Menge neuer Geſichtspunkte hervorgetreten; nun ſtellt man ganz andere Fragen an die erhaltenen Monumente und erhält neue Antworten und Aufſchlüſſe. Erſchwert ſind dieſe For¬ ſchungen dadurch, daß die Gebäude der Akropolis nicht bloß durch Exploſionen und Erderſchütterungen gelitten haben, ſon¬ dern auch dadurch, daß ſie bei Einführung des Chriſtenthums auf die allergewaltſamſte Weiſe umgeſtaltet worden ſind. Aber dennoch finden ſich noch heute auf dem ſo vielfach mißhandelten Fußboden des Parthenon in ſchwachen und allmählich ver¬ löſchenden, aber jetzt noch unverkennbaren Linien die Spuren der alten Säulenhallen im Innern der Cella; es finden ſich die Spuren der Querwände, der alten Schwellen und Thüröff¬ nungen, welche für die Kenntniß der urſprünglichen Raumein¬ theilung ſo wichtig ſind. Draußen an den Säulenhallen ſieht man die Spuren der Vergitterung, welche zur Aufbewahrung des Staatsſchatzes nöthig war, und ſelbſt die vorperikleiſchen Bauwerke können in zahlreichen Bruchſtücken erkannt und ge¬ würdigt werden. So manches Räthſelhafte alſo auch im Ein¬ zelnen noch übrig bleiben mag, indem man entweder That¬ ſachen wahrnimmt, die man nicht zu erklären vermag, oder über gewiſſe Theile, der Gebäude unter den Trümmern ver¬ geblich nach Auskunft gebenden Ueberreſten ſucht, ſo haben doch die neueſten Unterſuchungen von Neuem gezeigt, wie un¬ erſchöpflich die Fundgrube von Belehrung iſt, welche das Trümmerfeld der Akropolis darbietet. Dann, von den großen Monumenten abgeſehen, die Fülle <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0044" n="28"/><fw place="top" type="header">Das alte und neue Griechenland.<lb/></fw>begonnen, die man füglich derjenigen vergleichen kann, welche<lb/> in Betreff natürlicher Organismen die phyſiologiſche genannt<lb/> wird, d. h. eine Betrachtung, welche ſich nicht begnügt, die<lb/> einzelnen Bauglieder zu meſſen, zu benennen und zu beſchreiben,<lb/> ſondern die Funktionen der einzelnen Glieder; die Beſtimmung<lb/> der verſchiedenen Räumlichkeiten und ihre Benutzung zu reli¬<lb/> giöſen und ſtaatlichen Zwecken erforſcht. Dadurch ſind eine<lb/> Menge neuer Geſichtspunkte hervorgetreten; nun ſtellt man<lb/> ganz andere Fragen an die erhaltenen Monumente und erhält<lb/> neue Antworten und Aufſchlüſſe. 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Das alte und neue Griechenland.
begonnen, die man füglich derjenigen vergleichen kann, welche
in Betreff natürlicher Organismen die phyſiologiſche genannt
wird, d. h. eine Betrachtung, welche ſich nicht begnügt, die
einzelnen Bauglieder zu meſſen, zu benennen und zu beſchreiben,
ſondern die Funktionen der einzelnen Glieder; die Beſtimmung
der verſchiedenen Räumlichkeiten und ihre Benutzung zu reli¬
giöſen und ſtaatlichen Zwecken erforſcht. Dadurch ſind eine
Menge neuer Geſichtspunkte hervorgetreten; nun ſtellt man
ganz andere Fragen an die erhaltenen Monumente und erhält
neue Antworten und Aufſchlüſſe. Erſchwert ſind dieſe For¬
ſchungen dadurch, daß die Gebäude der Akropolis nicht bloß
durch Exploſionen und Erderſchütterungen gelitten haben, ſon¬
dern auch dadurch, daß ſie bei Einführung des Chriſtenthums
auf die allergewaltſamſte Weiſe umgeſtaltet worden ſind. Aber
dennoch finden ſich noch heute auf dem ſo vielfach mißhandelten
Fußboden des Parthenon in ſchwachen und allmählich ver¬
löſchenden, aber jetzt noch unverkennbaren Linien die Spuren
der alten Säulenhallen im Innern der Cella; es finden ſich die
Spuren der Querwände, der alten Schwellen und Thüröff¬
nungen, welche für die Kenntniß der urſprünglichen Raumein¬
theilung ſo wichtig ſind. Draußen an den Säulenhallen ſieht
man die Spuren der Vergitterung, welche zur Aufbewahrung
des Staatsſchatzes nöthig war, und ſelbſt die vorperikleiſchen
Bauwerke können in zahlreichen Bruchſtücken erkannt und ge¬
würdigt werden. So manches Räthſelhafte alſo auch im Ein¬
zelnen noch übrig bleiben mag, indem man entweder That¬
ſachen wahrnimmt, die man nicht zu erklären vermag, oder
über gewiſſe Theile, der Gebäude unter den Trümmern ver¬
geblich nach Auskunft gebenden Ueberreſten ſucht, ſo haben
doch die neueſten Unterſuchungen von Neuem gezeigt, wie un¬
erſchöpflich die Fundgrube von Belehrung iſt, welche das
Trümmerfeld der Akropolis darbietet.
Dann, von den großen Monumenten abgeſehen, die Fülle
kleiner Denkmäler, von denen nur auf dem Boden des Alter¬
thums ein Ueberblick zu gewinnen iſt. Es ſind unſcheinbare
Arbeiten, an Kunſtwerth unbedeutend und doch für die leben¬
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