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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
höchsten Leistungen geistiger Entwickelung erheben sich ja über¬
haupt so weit über den Boden, welcher sie getragen hat, daß
derselbe für die Erkenntniß derselben gleichgültig wird, und
die ganze Wissenschaft vom griechischen Alterthume ist fern
von Griechenland und durch Männer, die es nicht als Augen¬
zeugen kannten, zu der jetzt erreichten Höhe geführt worden.

So gewissenhaft wir uns aber von jeder phantastischen
Ueberschätzung der Ortsanschauung fern halten, um so ent¬
schiedener dürfen wir auch die wirklichen Vortheile derselben
anerkennen und der Gunst der Verhältnisse dankbar gedenken,
durch welche es jetzt auch uns Deutschen immer leichter ge¬
macht wird, auf dem klassischen Boden einheimisch zu werden.
Es ist zunächst ein Genuß der edelsten Art, dadurch zu einem
lebendigeren Verständnisse der alten Geschichte in ihren ein¬
zelnen Zügen so wie in ihrer ganzen Entwickelung zu gelangen.
Die alten Namen, seit der Kinderzeit Allen bekannt, hören auf
ein bloßer Klang zu sein; man hat die Form der Berge, die
Lage der Städte, das Ufer der Flüsse vor Augen. Man ver¬
gegenwärtigt sich die Wanderungen der Stämme, wenn man
die gastlich geöffneten Golfe von Argos und Attica anschaut;
man sieht von den Höhen Cumae's und Tauromeniumus aus
die ersten Ansiedler griechischer Zunge an den westlichen Ge¬
staden landen und begreift unter dem Himmel Siciliens und
Campaniens die eigenthümliche Entwickelung, welche die griechi¬
schen Colonien im Gegensatze zum Mutterlande genommen
haben. Man sieht im Golfe von Salamis das Gedränge der
Schiffe mit allen Einzelheiten des Kampfes vor Augen, man
theilt die Angst der Athener, wenn man das nahe Dekeleia
sich von den Truppen des Agis besetzt denkt. Es behält auch
für Athen Goethe's Wort seine Wahrheit. "Wer den Dichter
will verstehn, mußt in Dichters Lande gehn," wenn nämlich
die erhöhte Freude, mit welcher man in den Olivengärten des
Kolonos seinen Sophokles liest, auch ein innigeres Verständ¬
niß seines Geistes hervorruft und wenn man an der heiligen
Bucht von Eleusis sich die Einflüsse vergegenwärtigt, unter
denen Aeschylos' Geist heranreifte. Man empfängt ja von der

Das alte und neue Griechenland.
höchſten Leiſtungen geiſtiger Entwickelung erheben ſich ja über¬
haupt ſo weit über den Boden, welcher ſie getragen hat, daß
derſelbe für die Erkenntniß derſelben gleichgültig wird, und
die ganze Wiſſenſchaft vom griechiſchen Alterthume iſt fern
von Griechenland und durch Männer, die es nicht als Augen¬
zeugen kannten, zu der jetzt erreichten Höhe geführt worden.

So gewiſſenhaft wir uns aber von jeder phantaſtiſchen
Ueberſchätzung der Ortſanſchauung fern halten, um ſo ent¬
ſchiedener dürfen wir auch die wirklichen Vortheile derſelben
anerkennen und der Gunſt der Verhältniſſe dankbar gedenken,
durch welche es jetzt auch uns Deutſchen immer leichter ge¬
macht wird, auf dem klaſſiſchen Boden einheimiſch zu werden.
Es iſt zunächſt ein Genuß der edelſten Art, dadurch zu einem
lebendigeren Verſtändniſſe der alten Geſchichte in ihren ein¬
zelnen Zügen ſo wie in ihrer ganzen Entwickelung zu gelangen.
Die alten Namen, ſeit der Kinderzeit Allen bekannt, hören auf
ein bloßer Klang zu ſein; man hat die Form der Berge, die
Lage der Städte, das Ufer der Flüſſe vor Augen. Man ver¬
gegenwärtigt ſich die Wanderungen der Stämme, wenn man
die gaſtlich geöffneten Golfe von Argos und Attica anſchaut;
man ſieht von den Höhen Cumae's und Tauromeniumus aus
die erſten Anſiedler griechiſcher Zunge an den weſtlichen Ge¬
ſtaden landen und begreift unter dem Himmel Siciliens und
Campaniens die eigenthümliche Entwickelung, welche die griechi¬
ſchen Colonien im Gegenſatze zum Mutterlande genommen
haben. Man ſieht im Golfe von Salamis das Gedränge der
Schiffe mit allen Einzelheiten des Kampfes vor Augen, man
theilt die Angſt der Athener, wenn man das nahe Dekeleia
ſich von den Truppen des Agis beſetzt denkt. Es behält auch
für Athen Goethe's Wort ſeine Wahrheit. »Wer den Dichter
will verſtehn, mußt in Dichters Lande gehn,« wenn nämlich
die erhöhte Freude, mit welcher man in den Olivengärten des
Kolonos ſeinen Sophokles lieſt, auch ein innigeres Verſtänd¬
niß ſeines Geiſtes hervorruft und wenn man an der heiligen
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[25/0041] Das alte und neue Griechenland. höchſten Leiſtungen geiſtiger Entwickelung erheben ſich ja über¬ haupt ſo weit über den Boden, welcher ſie getragen hat, daß derſelbe für die Erkenntniß derſelben gleichgültig wird, und die ganze Wiſſenſchaft vom griechiſchen Alterthume iſt fern von Griechenland und durch Männer, die es nicht als Augen¬ zeugen kannten, zu der jetzt erreichten Höhe geführt worden. So gewiſſenhaft wir uns aber von jeder phantaſtiſchen Ueberſchätzung der Ortſanſchauung fern halten, um ſo ent¬ ſchiedener dürfen wir auch die wirklichen Vortheile derſelben anerkennen und der Gunſt der Verhältniſſe dankbar gedenken, durch welche es jetzt auch uns Deutſchen immer leichter ge¬ macht wird, auf dem klaſſiſchen Boden einheimiſch zu werden. Es iſt zunächſt ein Genuß der edelſten Art, dadurch zu einem lebendigeren Verſtändniſſe der alten Geſchichte in ihren ein¬ zelnen Zügen ſo wie in ihrer ganzen Entwickelung zu gelangen. Die alten Namen, ſeit der Kinderzeit Allen bekannt, hören auf ein bloßer Klang zu ſein; man hat die Form der Berge, die Lage der Städte, das Ufer der Flüſſe vor Augen. Man ver¬ gegenwärtigt ſich die Wanderungen der Stämme, wenn man die gaſtlich geöffneten Golfe von Argos und Attica anſchaut; man ſieht von den Höhen Cumae's und Tauromeniumus aus die erſten Anſiedler griechiſcher Zunge an den weſtlichen Ge¬ ſtaden landen und begreift unter dem Himmel Siciliens und Campaniens die eigenthümliche Entwickelung, welche die griechi¬ ſchen Colonien im Gegenſatze zum Mutterlande genommen haben. Man ſieht im Golfe von Salamis das Gedränge der Schiffe mit allen Einzelheiten des Kampfes vor Augen, man theilt die Angſt der Athener, wenn man das nahe Dekeleia ſich von den Truppen des Agis beſetzt denkt. Es behält auch für Athen Goethe's Wort ſeine Wahrheit. »Wer den Dichter will verſtehn, mußt in Dichters Lande gehn,« wenn nämlich die erhöhte Freude, mit welcher man in den Olivengärten des Kolonos ſeinen Sophokles lieſt, auch ein innigeres Verſtänd¬ niß ſeines Geiſtes hervorruft und wenn man an der heiligen Bucht von Eleuſis ſich die Einflüſſe vergegenwärtigt, unter denen Aeſchylos' Geiſt heranreifte. Man empfängt ja von der

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/41>, abgerufen am 11.12.2024.