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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die patriotische Pflicht der Parteinahme.
ein nationales Unglück anzusehen; vielmehr ist der mannig¬
faltige Segen, welcher sich daran knüpft, auch durch blutige
Reibungen nicht zu theuer bezahlt. Aber das Normale bleibt
doch immer, daß das Volk zum Staate werde. So wird es
erst in vollem Maße eine geschichtliche Persönlichkeit, so wird
das von der Natur Vorgebildete durch den Menschengeist voll¬
endet. Der Volksstaat hat im vollsten Maße die Eigenschaft,
welche Aristoteles als Hauptbedingung und Ziel jedes wahren
Staats bezeichnet, die Autarkie (d. i. die auf eigenen Mitteln
ruhende, ausreichende Selbständigkeit), und daher die größte
Dauerhaftigkeit und innere Ruhe, weil nichts Ungleichartiges
beigemischt und nichts Gleichartiges ausgeschlossen ist, während
die Mischstaaten durch innere Widersprüche in Aufregung er¬
halten werden, und die Theilstaaten, sofern sie auf willkürlichen
Einrichtungen beruhen und eine auswärtige Ergänzung ihrer
Macht suchen oder durch internationale Tractate sich decken
müssen, immer eine gewisse künstliche und deshalb unsichere
Existenz haben. In staatlicher Gemeinschaft kommt das Volk
zum vollen, ruhigen Selbstbewußtsein, zum inneren Frieden
wie zur äußeren Geltung; sie hebt die Menschen durch hohe
und mannigfaltige Pflichten; sie öffnet allen Kräften der Nation
den weitesten Spielraum; sie bietet erst den ganzen Segen eines
wahren Vaterlandes.

Deshalb zieht auch durch die Völker alter und neuer Zeit
eine geheime Macht zu einem solchen Ziele, als ihrer wahren
Bestimmung, hin, und es kommt für ihr Heil Alles darauf
an, daß die rechte Zeit engerer Einigung nicht versäumt und
der einzig mögliche Weg nicht eigensinnig verschmäht werde.
Sonst geht der Segen der Vergangenheit verloren und die
Volksgeschichte wird nicht fortgeführt, sondern abgebrochen. So
ging es den Hellenen, welche vom Uebermaße ihres Sonder¬
lebens erschöpft die ersehnte Einigung unter der Macht eines
fremden Scepters fanden. Bei ihnen ist die Saat des Partei¬
hasses am vollsten aufgegangen. Wir müssen aber, um nicht
ungerecht zu sein, erkennen, daß auch keinem Volke der Erde
der rechtzeitige Uebergang aus der Zersplitterung in die Ein¬

Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
ein nationales Unglück anzuſehen; vielmehr iſt der mannig¬
faltige Segen, welcher ſich daran knüpft, auch durch blutige
Reibungen nicht zu theuer bezahlt. Aber das Normale bleibt
doch immer, daß das Volk zum Staate werde. So wird es
erſt in vollem Maße eine geſchichtliche Perſönlichkeit, ſo wird
das von der Natur Vorgebildete durch den Menſchengeiſt voll¬
endet. Der Volksſtaat hat im vollſten Maße die Eigenſchaft,
welche Ariſtoteles als Hauptbedingung und Ziel jedes wahren
Staats bezeichnet, die Autarkie (d. i. die auf eigenen Mitteln
ruhende, ausreichende Selbſtändigkeit), und daher die größte
Dauerhaftigkeit und innere Ruhe, weil nichts Ungleichartiges
beigemiſcht und nichts Gleichartiges ausgeſchloſſen iſt, während
die Miſchſtaaten durch innere Widerſprüche in Aufregung er¬
halten werden, und die Theilſtaaten, ſofern ſie auf willkürlichen
Einrichtungen beruhen und eine auswärtige Ergänzung ihrer
Macht ſuchen oder durch internationale Tractate ſich decken
müſſen, immer eine gewiſſe künſtliche und deshalb unſichere
Exiſtenz haben. In ſtaatlicher Gemeinſchaft kommt das Volk
zum vollen, ruhigen Selbſtbewußtſein, zum inneren Frieden
wie zur äußeren Geltung; ſie hebt die Menſchen durch hohe
und mannigfaltige Pflichten; ſie öffnet allen Kräften der Nation
den weiteſten Spielraum; ſie bietet erſt den ganzen Segen eines
wahren Vaterlandes.

Deshalb zieht auch durch die Völker alter und neuer Zeit
eine geheime Macht zu einem ſolchen Ziele, als ihrer wahren
Beſtimmung, hin, und es kommt für ihr Heil Alles darauf
an, daß die rechte Zeit engerer Einigung nicht verſäumt und
der einzig mögliche Weg nicht eigenſinnig verſchmäht werde.
Sonſt geht der Segen der Vergangenheit verloren und die
Volksgeſchichte wird nicht fortgeführt, ſondern abgebrochen. So
ging es den Hellenen, welche vom Uebermaße ihres Sonder¬
lebens erſchöpft die erſehnte Einigung unter der Macht eines
fremden Scepters fanden. Bei ihnen iſt die Saat des Partei¬
haſſes am vollſten aufgegangen. Wir müſſen aber, um nicht
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[332/0348] Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. ein nationales Unglück anzuſehen; vielmehr iſt der mannig¬ faltige Segen, welcher ſich daran knüpft, auch durch blutige Reibungen nicht zu theuer bezahlt. Aber das Normale bleibt doch immer, daß das Volk zum Staate werde. So wird es erſt in vollem Maße eine geſchichtliche Perſönlichkeit, ſo wird das von der Natur Vorgebildete durch den Menſchengeiſt voll¬ endet. Der Volksſtaat hat im vollſten Maße die Eigenſchaft, welche Ariſtoteles als Hauptbedingung und Ziel jedes wahren Staats bezeichnet, die Autarkie (d. i. die auf eigenen Mitteln ruhende, ausreichende Selbſtändigkeit), und daher die größte Dauerhaftigkeit und innere Ruhe, weil nichts Ungleichartiges beigemiſcht und nichts Gleichartiges ausgeſchloſſen iſt, während die Miſchſtaaten durch innere Widerſprüche in Aufregung er¬ halten werden, und die Theilſtaaten, ſofern ſie auf willkürlichen Einrichtungen beruhen und eine auswärtige Ergänzung ihrer Macht ſuchen oder durch internationale Tractate ſich decken müſſen, immer eine gewiſſe künſtliche und deshalb unſichere Exiſtenz haben. In ſtaatlicher Gemeinſchaft kommt das Volk zum vollen, ruhigen Selbſtbewußtſein, zum inneren Frieden wie zur äußeren Geltung; ſie hebt die Menſchen durch hohe und mannigfaltige Pflichten; ſie öffnet allen Kräften der Nation den weiteſten Spielraum; ſie bietet erſt den ganzen Segen eines wahren Vaterlandes. Deshalb zieht auch durch die Völker alter und neuer Zeit eine geheime Macht zu einem ſolchen Ziele, als ihrer wahren Beſtimmung, hin, und es kommt für ihr Heil Alles darauf an, daß die rechte Zeit engerer Einigung nicht verſäumt und der einzig mögliche Weg nicht eigenſinnig verſchmäht werde. Sonſt geht der Segen der Vergangenheit verloren und die Volksgeſchichte wird nicht fortgeführt, ſondern abgebrochen. So ging es den Hellenen, welche vom Uebermaße ihres Sonder¬ lebens erſchöpft die erſehnte Einigung unter der Macht eines fremden Scepters fanden. Bei ihnen iſt die Saat des Partei¬ haſſes am vollſten aufgegangen. Wir müſſen aber, um nicht ungerecht zu ſein, erkennen, daß auch keinem Volke der Erde der rechtzeitige Uebergang aus der Zerſplitterung in die Ein¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/348>, abgerufen am 23.11.2024.