wahre Hellas sei. War also sein Wirken nicht ein echt na¬ tionales, und war es nicht ein Glück für Athen, wie es sich selten wiederholt, einem so hohen Berufe in solcher Weise ge¬ nügen zu können?
Aber, sagt man, so glänzend immerhin der Zustand des perikleischen Athens war, als einen glücklichen dürfen wir ihn kaum preisen, da er doch nur ein Moment war in der Volks¬ geschichte; der rasche Verfall zeigt ja, auf wie unsicheren Grund¬ lagen jenes Glück beruhte. Soll damit die Blüthe Athens als eine künstlich getriebene und deshalb vergängliche be¬ zeichnet werden, so widerspricht dem der Charakter der ganzen Zeit und ihrer Werke. Was sie geleistet hat, ist durch den überschauenden Blick des Einen Mannes nach allen Seiten gefördert worden; aber eine willkürlich hervorgerufene, durch äußere Mittel und um äußerer Zwecke willen angeregte, durch Ueberreizung beschleunigte können wir die Entwickelung Athens nicht nennen, sondern sie ist aus dem Volke mit frischen Trie¬ ben hervorgegangen, national und gesund. Oder soll etwa gar die Zeitdauer den Maßstab des Glücks abgeben? Das würde freilich vollständig dem widersprechen, was wir im Einverständnisse mit den Weisen Griechenlands als das Wesen des Glücks erkannt haben. Dann müßte eine lange Reihe kümmerlicher Jahre einem kurzen, inhaltreichen Leben in voller Kraft der Gesundheit, dann müßte das lange, kränkelnde Da¬ sein des spartanischen Staats der Vollblüthe des attischen Lebens vorgezogen werden!
Die Staaten des Alterthums lebten rascher, als die neueren, schon deshalb weil sie kleiner waren und ihre Bürger¬ schaften abgeschlossene Körperschaften; jeder öffentliche Unfall betraf unmittelbarer jeden Einzelnen, jeder Verlust wurde schwerer ersetzt, jede Veränderung war durchgreifender. Da¬ her sind die Krisen des Verfassungslebens häufig so plötzlich eingetreten, und in manchen Staaten können wir beinahe nach Jahr und Tag den Wendepunkt des inneren Lebens bestimmen. In Athen war die Umänderung besonders plötzlich und über¬ raschend; sie war aber nicht die Folge der von Perikles ge¬
Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
wahre Hellas ſei. War alſo ſein Wirken nicht ein echt na¬ tionales, und war es nicht ein Glück für Athen, wie es ſich ſelten wiederholt, einem ſo hohen Berufe in ſolcher Weiſe ge¬ nügen zu können?
Aber, ſagt man, ſo glänzend immerhin der Zuſtand des perikleiſchen Athens war, als einen glücklichen dürfen wir ihn kaum preiſen, da er doch nur ein Moment war in der Volks¬ geſchichte; der raſche Verfall zeigt ja, auf wie unſicheren Grund¬ lagen jenes Glück beruhte. Soll damit die Blüthe Athens als eine künſtlich getriebene und deshalb vergängliche be¬ zeichnet werden, ſo widerſpricht dem der Charakter der ganzen Zeit und ihrer Werke. Was ſie geleiſtet hat, iſt durch den überſchauenden Blick des Einen Mannes nach allen Seiten gefördert worden; aber eine willkürlich hervorgerufene, durch äußere Mittel und um äußerer Zwecke willen angeregte, durch Ueberreizung beſchleunigte können wir die Entwickelung Athens nicht nennen, ſondern ſie iſt aus dem Volke mit friſchen Trie¬ ben hervorgegangen, national und geſund. Oder ſoll etwa gar die Zeitdauer den Maßſtab des Glücks abgeben? Das würde freilich vollſtändig dem widerſprechen, was wir im Einverſtändniſſe mit den Weiſen Griechenlands als das Weſen des Glücks erkannt haben. Dann müßte eine lange Reihe kümmerlicher Jahre einem kurzen, inhaltreichen Leben in voller Kraft der Geſundheit, dann müßte das lange, kränkelnde Da¬ ſein des ſpartaniſchen Staats der Vollblüthe des attiſchen Lebens vorgezogen werden!
Die Staaten des Alterthums lebten raſcher, als die neueren, ſchon deshalb weil ſie kleiner waren und ihre Bürger¬ ſchaften abgeſchloſſene Körperſchaften; jeder öffentliche Unfall betraf unmittelbarer jeden Einzelnen, jeder Verluſt wurde ſchwerer erſetzt, jede Veränderung war durchgreifender. Da¬ her ſind die Kriſen des Verfaſſungslebens häufig ſo plötzlich eingetreten, und in manchen Staaten können wir beinahe nach Jahr und Tag den Wendepunkt des inneren Lebens beſtimmen. In Athen war die Umänderung beſonders plötzlich und über¬ raſchend; ſie war aber nicht die Folge der von Perikles ge¬
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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
wahre Hellas ſei. War alſo ſein Wirken nicht ein echt na¬
tionales, und war es nicht ein Glück für Athen, wie es ſich
ſelten wiederholt, einem ſo hohen Berufe in ſolcher Weiſe ge¬
nügen zu können?
Aber, ſagt man, ſo glänzend immerhin der Zuſtand des
perikleiſchen Athens war, als einen glücklichen dürfen wir ihn
kaum preiſen, da er doch nur ein Moment war in der Volks¬
geſchichte; der raſche Verfall zeigt ja, auf wie unſicheren Grund¬
lagen jenes Glück beruhte. Soll damit die Blüthe Athens
als eine künſtlich getriebene und deshalb vergängliche be¬
zeichnet werden, ſo widerſpricht dem der Charakter der ganzen
Zeit und ihrer Werke. Was ſie geleiſtet hat, iſt durch den
überſchauenden Blick des Einen Mannes nach allen Seiten
gefördert worden; aber eine willkürlich hervorgerufene, durch
äußere Mittel und um äußerer Zwecke willen angeregte, durch
Ueberreizung beſchleunigte können wir die Entwickelung Athens
nicht nennen, ſondern ſie iſt aus dem Volke mit friſchen Trie¬
ben hervorgegangen, national und geſund. Oder ſoll etwa
gar die Zeitdauer den Maßſtab des Glücks abgeben? Das
würde freilich vollſtändig dem widerſprechen, was wir im
Einverſtändniſſe mit den Weiſen Griechenlands als das Weſen
des Glücks erkannt haben. Dann müßte eine lange Reihe
kümmerlicher Jahre einem kurzen, inhaltreichen Leben in voller
Kraft der Geſundheit, dann müßte das lange, kränkelnde Da¬
ſein des ſpartaniſchen Staats der Vollblüthe des attiſchen
Lebens vorgezogen werden!
Die Staaten des Alterthums lebten raſcher, als die
neueren, ſchon deshalb weil ſie kleiner waren und ihre Bürger¬
ſchaften abgeſchloſſene Körperſchaften; jeder öffentliche Unfall
betraf unmittelbarer jeden Einzelnen, jeder Verluſt wurde
ſchwerer erſetzt, jede Veränderung war durchgreifender. Da¬
her ſind die Kriſen des Verfaſſungslebens häufig ſo plötzlich
eingetreten, und in manchen Staaten können wir beinahe nach
Jahr und Tag den Wendepunkt des inneren Lebens beſtimmen.
In Athen war die Umänderung beſonders plötzlich und über¬
raſchend; ſie war aber nicht die Folge der von Perikles ge¬
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/333>, abgerufen am 22.07.2024.
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