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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
Beginn des Kampfes die Kriegsmittel herbeigeschafft hatte,
so mußte auch nach dem Siege erst die volle Berechtigung zu
demselben gewonnen werden. Auch der Geist verlangte neue
Erwerbungen, einen weiteren Gesichtskreis, eine höhere Bildung;
es war eine tief bewegte, eine gährende und in sich arbeitende
Zeit des Uebergangs. Denn noch bestand in männlicher Kraft
das alte Athen, die Generation der Marathonkämpfer, den
väterlichen Sitten treu ergeben, mäßig, schlicht und bürgerlich,
als deren Kern sich die Familien betrachteten, die seit unvor¬
denklichen Zeiten den Boden von Attika bestellten. Daneben
drängte sich das jüngere Athen vor, in jener Zeit aufgewachsen,
die Themistokles mit seinem Geiste beseelte, da man Häfen
und Werften baute, Schiff auf Schiff in rastloser Geschäftig¬
keit von Stapel ließ und alles junge Volk sich mit Ruder und
Segel übte. Da wurde der Blick von den väterlichen Fluren
ins Weite gerichtet, wo Insel an Insel sich reihte, die bis
zu den fernsten Küsten auf Athens Schutz zählten. Damit
begann ein Aufschwung der Gewerbe, ein Trieb zu Unter¬
nehmungen, ein Hang zu raschem Handelsgewinne, wodurch
die Stille des bisherigen Lebens vollständig unterbrochen war.
Nun kamen dazu die anregenden und aufregenden Berührungen
mit den Städten Ioniens, wo eine Forschung begonnen hatte,
welche sich der Welt der Erscheinungen kühn entgegenstellte,
die den menschlichen Geist aufrüttelte aus seinem behaglichen
Dahinleben und ihn frei machte von dem Ansehen des Her¬
kömmlichen. Eine neue Bewegung begann, indem Alles in
Frage gestellt wurde, um entweder verworfen oder sicherer
als bisher gewonnen und besessen zu werden. Mit dem Zweifel
begann der Kampf und das Ringen nach bleibender Wahr¬
heit; neben den praktischen Tugenden, wie sie der Bürger in
Krieg und Frieden zu gemeinem Nutzen bethätigt hatte, ent¬
falteten sich neue Tugenden, indem der Geist ohne äußere
Zwecke nach der Anschauung des Ewigen und Göttlichen trachten
lernte, die Tugenden der Erkenntniß und der Weisheitsliebe.

Also die erste und wesentliche Voraussetzung des Staats¬
glücks war vorhanden, eine Fülle von Lebenskräften, in einem

Curtius, Alterthum. 20

Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
Beginn des Kampfes die Kriegsmittel herbeigeſchafft hatte,
ſo mußte auch nach dem Siege erſt die volle Berechtigung zu
demſelben gewonnen werden. Auch der Geiſt verlangte neue
Erwerbungen, einen weiteren Geſichtskreis, eine höhere Bildung;
es war eine tief bewegte, eine gährende und in ſich arbeitende
Zeit des Uebergangs. Denn noch beſtand in männlicher Kraft
das alte Athen, die Generation der Marathonkämpfer, den
väterlichen Sitten treu ergeben, mäßig, ſchlicht und bürgerlich,
als deren Kern ſich die Familien betrachteten, die ſeit unvor¬
denklichen Zeiten den Boden von Attika beſtellten. Daneben
drängte ſich das jüngere Athen vor, in jener Zeit aufgewachſen,
die Themiſtokles mit ſeinem Geiſte beſeelte, da man Häfen
und Werften baute, Schiff auf Schiff in raſtloſer Geſchäftig¬
keit von Stapel ließ und alles junge Volk ſich mit Ruder und
Segel übte. Da wurde der Blick von den väterlichen Fluren
ins Weite gerichtet, wo Inſel an Inſel ſich reihte, die bis
zu den fernſten Küſten auf Athens Schutz zählten. Damit
begann ein Aufſchwung der Gewerbe, ein Trieb zu Unter¬
nehmungen, ein Hang zu raſchem Handelsgewinne, wodurch
die Stille des bisherigen Lebens vollſtändig unterbrochen war.
Nun kamen dazu die anregenden und aufregenden Berührungen
mit den Städten Ioniens, wo eine Forſchung begonnen hatte,
welche ſich der Welt der Erſcheinungen kühn entgegenſtellte,
die den menſchlichen Geiſt aufrüttelte aus ſeinem behaglichen
Dahinleben und ihn frei machte von dem Anſehen des Her¬
kömmlichen. Eine neue Bewegung begann, indem Alles in
Frage geſtellt wurde, um entweder verworfen oder ſicherer
als bisher gewonnen und beſeſſen zu werden. Mit dem Zweifel
begann der Kampf und das Ringen nach bleibender Wahr¬
heit; neben den praktiſchen Tugenden, wie ſie der Bürger in
Krieg und Frieden zu gemeinem Nutzen bethätigt hatte, ent¬
falteten ſich neue Tugenden, indem der Geiſt ohne äußere
Zwecke nach der Anſchauung des Ewigen und Göttlichen trachten
lernte, die Tugenden der Erkenntniß und der Weisheitsliebe.

Alſo die erſte und weſentliche Vorausſetzung des Staats¬
glücks war vorhanden, eine Fülle von Lebenskräften, in einem

Curtius, Alterthum. 20
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[305/0321] Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. Beginn des Kampfes die Kriegsmittel herbeigeſchafft hatte, ſo mußte auch nach dem Siege erſt die volle Berechtigung zu demſelben gewonnen werden. Auch der Geiſt verlangte neue Erwerbungen, einen weiteren Geſichtskreis, eine höhere Bildung; es war eine tief bewegte, eine gährende und in ſich arbeitende Zeit des Uebergangs. Denn noch beſtand in männlicher Kraft das alte Athen, die Generation der Marathonkämpfer, den väterlichen Sitten treu ergeben, mäßig, ſchlicht und bürgerlich, als deren Kern ſich die Familien betrachteten, die ſeit unvor¬ denklichen Zeiten den Boden von Attika beſtellten. Daneben drängte ſich das jüngere Athen vor, in jener Zeit aufgewachſen, die Themiſtokles mit ſeinem Geiſte beſeelte, da man Häfen und Werften baute, Schiff auf Schiff in raſtloſer Geſchäftig¬ keit von Stapel ließ und alles junge Volk ſich mit Ruder und Segel übte. Da wurde der Blick von den väterlichen Fluren ins Weite gerichtet, wo Inſel an Inſel ſich reihte, die bis zu den fernſten Küſten auf Athens Schutz zählten. Damit begann ein Aufſchwung der Gewerbe, ein Trieb zu Unter¬ nehmungen, ein Hang zu raſchem Handelsgewinne, wodurch die Stille des bisherigen Lebens vollſtändig unterbrochen war. Nun kamen dazu die anregenden und aufregenden Berührungen mit den Städten Ioniens, wo eine Forſchung begonnen hatte, welche ſich der Welt der Erſcheinungen kühn entgegenſtellte, die den menſchlichen Geiſt aufrüttelte aus ſeinem behaglichen Dahinleben und ihn frei machte von dem Anſehen des Her¬ kömmlichen. Eine neue Bewegung begann, indem Alles in Frage geſtellt wurde, um entweder verworfen oder ſicherer als bisher gewonnen und beſeſſen zu werden. Mit dem Zweifel begann der Kampf und das Ringen nach bleibender Wahr¬ heit; neben den praktiſchen Tugenden, wie ſie der Bürger in Krieg und Frieden zu gemeinem Nutzen bethätigt hatte, ent¬ falteten ſich neue Tugenden, indem der Geiſt ohne äußere Zwecke nach der Anſchauung des Ewigen und Göttlichen trachten lernte, die Tugenden der Erkenntniß und der Weisheitsliebe. Alſo die erſte und weſentliche Vorausſetzung des Staats¬ glücks war vorhanden, eine Fülle von Lebenskräften, in einem Curtius, Alterthum. 20

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/321>, abgerufen am 24.11.2024.