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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das Mittleramt der Philologie.
zu wissenschaftlichem Streben heranzubilden. Aber ihr könnt
es Niemand verargen, wenn sich das vorwiegende Interesse
den Wissenschaften zuwendet, welche jetzt in voller Entwickelung
vorwärts schreiten. Man muthet also der Philologie eine
bescheidene Zurückhaltung zu; man weist ihr gleichsam einen
anständigen Witwensitz an mit allerlei nützlichen Beschäftigungen
für ihre alten Tage. Das Alterthum liegt ja abgeschlossen
hinter uns. Man darf es nicht ungestraft bei Seite lassen,
man soll fortfahren die Klassiker zu lesen, zu erklären und zu
verbessern; aber wo ist da Gelegenheit zu neuen Ergebnissen
der Wissenschaft, welche im Stande wären, eine allgemeine
Theilnahme zu erwecken?

Freilich ist das Alterthum etwas Abgeschlossenes und hinter
uns Liegendes, aber das Alte ist darum nicht abgethan. Die
Berge stehen da seit den Tagen der Schöpfung und doch findet
man immer neue Metalladern und neue Schätze, welche den
Menschen unerwartete Dienste leisten. Wer sagt euch denn,
daß die Schachte des Alterthums erschöpft seien? Wie die
Natur nach den verschiedenen Fragestellungen immer andere
Anworten giebt, in sich ein ewig Gleiches und doch jeder
Generation ein Anderes und Neues, so auch das Alterthum,
dessen Auffassung von der geistigen Richtung jedes Zeitalters
wesentlich bedingt ist.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, als sich in
Deutschland eine Nationallitteratur bildete, wurde auch das
Alterthum neu erfaßt und die Kunstwerke, längst zur An¬
schauung ausgestellt, fingen an zu reden. Als dann am Ende
des Jahrhunderts die ungeheure Erschütterung der gesellschaft¬
lichen Ordnung die Geister aller Orten aus gewohntem Trei¬
ben erweckte, als Alles in Frage gestellt wurde, was bis dahin
gegolten hatte, da konnte auch der Wissenschaft nirgends mehr
das Oberflächliche genügen, nirgends das Herkömmliche und
Angenommene als solches sich behaupten. Mit der Gegen¬
wart veränderte sich auch das Alterthum, und das Rom, welches
aus den Niebuhr'schen Forschungen auftauchte, war wie eine neue
Welt, von welcher in den alten Thesauren nichts zu finden war.

Das Mittleramt der Philologie.
zu wiſſenſchaftlichem Streben heranzubilden. Aber ihr könnt
es Niemand verargen, wenn ſich das vorwiegende Intereſſe
den Wiſſenſchaften zuwendet, welche jetzt in voller Entwickelung
vorwärts ſchreiten. Man muthet alſo der Philologie eine
beſcheidene Zurückhaltung zu; man weiſt ihr gleichſam einen
anſtändigen Witwenſitz an mit allerlei nützlichen Beſchäftigungen
für ihre alten Tage. Das Alterthum liegt ja abgeſchloſſen
hinter uns. Man darf es nicht ungeſtraft bei Seite laſſen,
man ſoll fortfahren die Klaſſiker zu leſen, zu erklären und zu
verbeſſern; aber wo iſt da Gelegenheit zu neuen Ergebniſſen
der Wiſſenſchaft, welche im Stande wären, eine allgemeine
Theilnahme zu erwecken?

Freilich iſt das Alterthum etwas Abgeſchloſſenes und hinter
uns Liegendes, aber das Alte iſt darum nicht abgethan. Die
Berge ſtehen da ſeit den Tagen der Schöpfung und doch findet
man immer neue Metalladern und neue Schätze, welche den
Menſchen unerwartete Dienſte leiſten. Wer ſagt euch denn,
daß die Schachte des Alterthums erſchöpft ſeien? Wie die
Natur nach den verſchiedenen Frageſtellungen immer andere
Anworten giebt, in ſich ein ewig Gleiches und doch jeder
Generation ein Anderes und Neues, ſo auch das Alterthum,
deſſen Auffaſſung von der geiſtigen Richtung jedes Zeitalters
weſentlich bedingt iſt.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, als ſich in
Deutſchland eine Nationallitteratur bildete, wurde auch das
Alterthum neu erfaßt und die Kunſtwerke, längſt zur An¬
ſchauung ausgeſtellt, fingen an zu reden. Als dann am Ende
des Jahrhunderts die ungeheure Erſchütterung der geſellſchaft¬
lichen Ordnung die Geiſter aller Orten aus gewohntem Trei¬
ben erweckte, als Alles in Frage geſtellt wurde, was bis dahin
gegolten hatte, da konnte auch der Wiſſenſchaft nirgends mehr
das Oberflächliche genügen, nirgends das Herkömmliche und
Angenommene als ſolches ſich behaupten. Mit der Gegen¬
wart veränderte ſich auch das Alterthum, und das Rom, welches
aus den Niebuhr'ſchen Forſchungen auftauchte, war wie eine neue
Welt, von welcher in den alten Theſauren nichts zu finden war.

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[16/0032] Das Mittleramt der Philologie. zu wiſſenſchaftlichem Streben heranzubilden. Aber ihr könnt es Niemand verargen, wenn ſich das vorwiegende Intereſſe den Wiſſenſchaften zuwendet, welche jetzt in voller Entwickelung vorwärts ſchreiten. Man muthet alſo der Philologie eine beſcheidene Zurückhaltung zu; man weiſt ihr gleichſam einen anſtändigen Witwenſitz an mit allerlei nützlichen Beſchäftigungen für ihre alten Tage. Das Alterthum liegt ja abgeſchloſſen hinter uns. Man darf es nicht ungeſtraft bei Seite laſſen, man ſoll fortfahren die Klaſſiker zu leſen, zu erklären und zu verbeſſern; aber wo iſt da Gelegenheit zu neuen Ergebniſſen der Wiſſenſchaft, welche im Stande wären, eine allgemeine Theilnahme zu erwecken? Freilich iſt das Alterthum etwas Abgeſchloſſenes und hinter uns Liegendes, aber das Alte iſt darum nicht abgethan. Die Berge ſtehen da ſeit den Tagen der Schöpfung und doch findet man immer neue Metalladern und neue Schätze, welche den Menſchen unerwartete Dienſte leiſten. Wer ſagt euch denn, daß die Schachte des Alterthums erſchöpft ſeien? Wie die Natur nach den verſchiedenen Frageſtellungen immer andere Anworten giebt, in ſich ein ewig Gleiches und doch jeder Generation ein Anderes und Neues, ſo auch das Alterthum, deſſen Auffaſſung von der geiſtigen Richtung jedes Zeitalters weſentlich bedingt iſt. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, als ſich in Deutſchland eine Nationallitteratur bildete, wurde auch das Alterthum neu erfaßt und die Kunſtwerke, längſt zur An¬ ſchauung ausgeſtellt, fingen an zu reden. Als dann am Ende des Jahrhunderts die ungeheure Erſchütterung der geſellſchaft¬ lichen Ordnung die Geiſter aller Orten aus gewohntem Trei¬ ben erweckte, als Alles in Frage geſtellt wurde, was bis dahin gegolten hatte, da konnte auch der Wiſſenſchaft nirgends mehr das Oberflächliche genügen, nirgends das Herkömmliche und Angenommene als ſolches ſich behaupten. Mit der Gegen¬ wart veränderte ſich auch das Alterthum, und das Rom, welches aus den Niebuhr'ſchen Forſchungen auftauchte, war wie eine neue Welt, von welcher in den alten Theſauren nichts zu finden war.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/32>, abgerufen am 27.11.2024.