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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Philosophie und Geschichte.
man ihr von Seiten der einzelnen Fächer nur die unlösbaren
Probleme übrig läßt, während man sie, wo ein fruchtbarer
Fortschritt der Forschung gestattet ist, argwöhnisch beobachtet
und jedem Uebergriff vorzubeugen sucht.

Man hat daher die Philosophie mit einer Frau ver¬
glichen, welche von ihren Kindern mit Undank belohnt und in
dem Hause, das sie gestiftet und eingerichtet hat, ihres Haus¬
rechts verlustig gegangen ist.

Indessen legen doch alle Territorialstreitigkeiten zwischen
Philosophie und Fachwissenschaft ein Zeugniß davon ab, daß
es noch einen großen Zusammenhang giebt, der sich durch keinen
Widerspruch beseitigen und durch keine künstlich gezogenen Gränz¬
linien zerschneiden läßt, ein untheilbares Reich des Gedankens,
das Niemand aufgeben will, wenn es auch, wie im deutschen
Reiche, hie und da zu peinlichen Competenzfragen kommt.

Je größer die Gefahr ist, daß die einzelnen Fachwissen¬
schaften einander ganz entfremden und ihre Vertreter ohne
gegenseitiges Verständniß neben einander hergehen, um so un¬
entbehrlicher und um so ehrwürdiger wird das Amt der Phi¬
losophie, welche, auf der Höhe der Erkenntniß weilend, ohne
den einzelnen Wissenschaften ihre Selbständigkeit zu mißgönnen,
über die Fachwände hinüber mit königlichem Auge das Arbeits¬
feld überschaut, auf entlegenen Gebieten den gleichen Zug des
Geistes spürt, im Gewirre der Stimmen die leisen Accorde der
Uebereinstimmung heraushört und die gemeinsamen Ergebnisse
für den Fortschritt des menschlichen Erkennens allmählich zu
Tage fördert.

So bleibt sie der Lebensgenius der Wissenschaft, und zwar
nicht bloß als eine Wissenschaft neben den anderen, sondern
als der allen gemeinsame und in allen lebendige Odem, eine
mit der anderen verbindend und in allen das Gefühl des ge¬
meinsamen Herdes erhaltend. So bewährt sich ihr Mutter¬
recht, nachdem die Kinder mündig geworden, als ein mütter¬
licher Segen, welcher den Geist des Hauses wahrt und die
zerstreuten Hauskinder zusammenhält.


Philoſophie und Geſchichte.
man ihr von Seiten der einzelnen Fächer nur die unlösbaren
Probleme übrig läßt, während man ſie, wo ein fruchtbarer
Fortſchritt der Forſchung geſtattet iſt, argwöhniſch beobachtet
und jedem Uebergriff vorzubeugen ſucht.

Man hat daher die Philoſophie mit einer Frau ver¬
glichen, welche von ihren Kindern mit Undank belohnt und in
dem Hauſe, das ſie geſtiftet und eingerichtet hat, ihres Haus¬
rechts verluſtig gegangen iſt.

Indeſſen legen doch alle Territorialſtreitigkeiten zwiſchen
Philoſophie und Fachwiſſenſchaft ein Zeugniß davon ab, daß
es noch einen großen Zuſammenhang giebt, der ſich durch keinen
Widerſpruch beſeitigen und durch keine künſtlich gezogenen Gränz¬
linien zerſchneiden läßt, ein untheilbares Reich des Gedankens,
das Niemand aufgeben will, wenn es auch, wie im deutſchen
Reiche, hie und da zu peinlichen Competenzfragen kommt.

Je größer die Gefahr iſt, daß die einzelnen Fachwiſſen¬
ſchaften einander ganz entfremden und ihre Vertreter ohne
gegenſeitiges Verſtändniß neben einander hergehen, um ſo un¬
entbehrlicher und um ſo ehrwürdiger wird das Amt der Phi¬
loſophie, welche, auf der Höhe der Erkenntniß weilend, ohne
den einzelnen Wiſſenſchaften ihre Selbſtändigkeit zu mißgönnen,
über die Fachwände hinüber mit königlichem Auge das Arbeits¬
feld überſchaut, auf entlegenen Gebieten den gleichen Zug des
Geiſtes ſpürt, im Gewirre der Stimmen die leiſen Accorde der
Uebereinſtimmung heraushört und die gemeinſamen Ergebniſſe
für den Fortſchritt des menſchlichen Erkennens allmählich zu
Tage fördert.

So bleibt ſie der Lebensgenius der Wiſſenſchaft, und zwar
nicht bloß als eine Wiſſenſchaft neben den anderen, ſondern
als der allen gemeinſame und in allen lebendige Odem, eine
mit der anderen verbindend und in allen das Gefühl des ge¬
meinſamen Herdes erhaltend. So bewährt ſich ihr Mutter¬
recht, nachdem die Kinder mündig geworden, als ein mütter¬
licher Segen, welcher den Geiſt des Hauſes wahrt und die
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[300/0316] Philoſophie und Geſchichte. man ihr von Seiten der einzelnen Fächer nur die unlösbaren Probleme übrig läßt, während man ſie, wo ein fruchtbarer Fortſchritt der Forſchung geſtattet iſt, argwöhniſch beobachtet und jedem Uebergriff vorzubeugen ſucht. Man hat daher die Philoſophie mit einer Frau ver¬ glichen, welche von ihren Kindern mit Undank belohnt und in dem Hauſe, das ſie geſtiftet und eingerichtet hat, ihres Haus¬ rechts verluſtig gegangen iſt. Indeſſen legen doch alle Territorialſtreitigkeiten zwiſchen Philoſophie und Fachwiſſenſchaft ein Zeugniß davon ab, daß es noch einen großen Zuſammenhang giebt, der ſich durch keinen Widerſpruch beſeitigen und durch keine künſtlich gezogenen Gränz¬ linien zerſchneiden läßt, ein untheilbares Reich des Gedankens, das Niemand aufgeben will, wenn es auch, wie im deutſchen Reiche, hie und da zu peinlichen Competenzfragen kommt. Je größer die Gefahr iſt, daß die einzelnen Fachwiſſen¬ ſchaften einander ganz entfremden und ihre Vertreter ohne gegenſeitiges Verſtändniß neben einander hergehen, um ſo un¬ entbehrlicher und um ſo ehrwürdiger wird das Amt der Phi¬ loſophie, welche, auf der Höhe der Erkenntniß weilend, ohne den einzelnen Wiſſenſchaften ihre Selbſtändigkeit zu mißgönnen, über die Fachwände hinüber mit königlichem Auge das Arbeits¬ feld überſchaut, auf entlegenen Gebieten den gleichen Zug des Geiſtes ſpürt, im Gewirre der Stimmen die leiſen Accorde der Uebereinſtimmung heraushört und die gemeinſamen Ergebniſſe für den Fortſchritt des menſchlichen Erkennens allmählich zu Tage fördert. So bleibt ſie der Lebensgenius der Wiſſenſchaft, und zwar nicht bloß als eine Wiſſenſchaft neben den anderen, ſondern als der allen gemeinſame und in allen lebendige Odem, eine mit der anderen verbindend und in allen das Gefühl des ge¬ meinſamen Herdes erhaltend. So bewährt ſich ihr Mutter¬ recht, nachdem die Kinder mündig geworden, als ein mütter¬ licher Segen, welcher den Geiſt des Hauſes wahrt und die zerſtreuten Hauskinder zuſammenhält.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/316>, abgerufen am 23.11.2024.