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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Philosophie und Geschichte.
werden konnte, sondern auch eine genaue Beobachtung der¬
selben in gesunden und kranken Zuständen, eine Physiologie
und Pathologie des Staatslebens, wie sie von Aristoteles
begründet wurde, sobald der eigentliche Lebensproceß der
vaterländischen Entwickelung beendet war.

Eine Geschichte, welche solche Geschichtschreibung hervor¬
gerufen und die erste folgenreiche Verbindung zwischen Philo¬
sophie und Geschichte veranlaßt hat, bleibt gewiß für die im
echten Sinne philosophische Geschichtsbetrachtung ein vorzüg¬
licher Gegenstand, und jede Zeit wird ihrem Standpunkte und
ihrem besondern Bedürfnisse nach an dieser Aufgabe fort¬
arbeiten.

Seit Leibniz ist die Stellung der Philosophie eine wesent¬
lich andere. Die einzelnen Fächer sind selbständige Wissen¬
schaften geworden und die Vertreter derselben sind nicht ge¬
sonnen, sich von Männern, welche an der Facharbeit unbethei¬
ligt sind, Methoden vorschreiben und Ziele stellen zu lassen
oder von ihnen die Verwerthung ihrer Arbeiten zu erwarten.
Es ist im Reich der Wissenschaft gegangen wie in den Staa¬
ten des Alterthums, in denen es eine Zeit gab, wo das ganze
öffentliche Leben im Königthum beschlossen war, das schirmend
und pflegend über dem Ganzen waltete, bis die einzelnen
Seiten des Gemeindelebens ihre Organe erhielten, und das¬
jenige Amt, welches ursprünglich das einzige im Staate ge¬
wesen war, zu einem Ehrenamte wurde, das man zwar im
Staate nicht missen wollte, aber von allen maßgebenden Ein¬
flüssen ängstlich fern hielt. Auch in der Kunst gab es Zeiten,
wo der Baumeister dem Bildner wie dem Maler sein Arbeits¬
feld anordnete und Niemand läugnet, daß, wenn diese Ober¬
leitung eine von der richtigen Einsicht getragene ist, die größten,
auf anderem Wege nicht zu erzielenden Resultate gewonnen
werden können. Sind aber die einzelnen Künste einmal jeder
Gesammtleitung entwachsen, so ist die alte Reichsverfassung
mit ihrer monarchischen Spitze nicht wieder herzustellen.

So kann auch die Philosophie ihre königlichen Voll¬
machten nicht mehr geltend machen; sie ist in Gefahr, daß

Philoſophie und Geſchichte.
werden konnte, ſondern auch eine genaue Beobachtung der¬
ſelben in geſunden und kranken Zuſtänden, eine Phyſiologie
und Pathologie des Staatslebens, wie ſie von Ariſtoteles
begründet wurde, ſobald der eigentliche Lebensproceß der
vaterländiſchen Entwickelung beendet war.

Eine Geſchichte, welche ſolche Geſchichtſchreibung hervor¬
gerufen und die erſte folgenreiche Verbindung zwiſchen Philo¬
ſophie und Geſchichte veranlaßt hat, bleibt gewiß für die im
echten Sinne philoſophiſche Geſchichtsbetrachtung ein vorzüg¬
licher Gegenſtand, und jede Zeit wird ihrem Standpunkte und
ihrem beſondern Bedürfniſſe nach an dieſer Aufgabe fort¬
arbeiten.

Seit Leibniz iſt die Stellung der Philoſophie eine weſent¬
lich andere. Die einzelnen Fächer ſind ſelbſtändige Wiſſen¬
ſchaften geworden und die Vertreter derſelben ſind nicht ge¬
ſonnen, ſich von Männern, welche an der Facharbeit unbethei¬
ligt ſind, Methoden vorſchreiben und Ziele ſtellen zu laſſen
oder von ihnen die Verwerthung ihrer Arbeiten zu erwarten.
Es iſt im Reich der Wiſſenſchaft gegangen wie in den Staa¬
ten des Alterthums, in denen es eine Zeit gab, wo das ganze
öffentliche Leben im Königthum beſchloſſen war, das ſchirmend
und pflegend über dem Ganzen waltete, bis die einzelnen
Seiten des Gemeindelebens ihre Organe erhielten, und das¬
jenige Amt, welches urſprünglich das einzige im Staate ge¬
weſen war, zu einem Ehrenamte wurde, das man zwar im
Staate nicht miſſen wollte, aber von allen maßgebenden Ein¬
flüſſen ängſtlich fern hielt. Auch in der Kunſt gab es Zeiten,
wo der Baumeiſter dem Bildner wie dem Maler ſein Arbeits¬
feld anordnete und Niemand läugnet, daß, wenn dieſe Ober¬
leitung eine von der richtigen Einſicht getragene iſt, die größten,
auf anderem Wege nicht zu erzielenden Reſultate gewonnen
werden können. Sind aber die einzelnen Künſte einmal jeder
Geſammtleitung entwachſen, ſo iſt die alte Reichsverfaſſung
mit ihrer monarchiſchen Spitze nicht wieder herzuſtellen.

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[299/0315] Philoſophie und Geſchichte. werden konnte, ſondern auch eine genaue Beobachtung der¬ ſelben in geſunden und kranken Zuſtänden, eine Phyſiologie und Pathologie des Staatslebens, wie ſie von Ariſtoteles begründet wurde, ſobald der eigentliche Lebensproceß der vaterländiſchen Entwickelung beendet war. Eine Geſchichte, welche ſolche Geſchichtſchreibung hervor¬ gerufen und die erſte folgenreiche Verbindung zwiſchen Philo¬ ſophie und Geſchichte veranlaßt hat, bleibt gewiß für die im echten Sinne philoſophiſche Geſchichtsbetrachtung ein vorzüg¬ licher Gegenſtand, und jede Zeit wird ihrem Standpunkte und ihrem beſondern Bedürfniſſe nach an dieſer Aufgabe fort¬ arbeiten. Seit Leibniz iſt die Stellung der Philoſophie eine weſent¬ lich andere. Die einzelnen Fächer ſind ſelbſtändige Wiſſen¬ ſchaften geworden und die Vertreter derſelben ſind nicht ge¬ ſonnen, ſich von Männern, welche an der Facharbeit unbethei¬ ligt ſind, Methoden vorſchreiben und Ziele ſtellen zu laſſen oder von ihnen die Verwerthung ihrer Arbeiten zu erwarten. Es iſt im Reich der Wiſſenſchaft gegangen wie in den Staa¬ ten des Alterthums, in denen es eine Zeit gab, wo das ganze öffentliche Leben im Königthum beſchloſſen war, das ſchirmend und pflegend über dem Ganzen waltete, bis die einzelnen Seiten des Gemeindelebens ihre Organe erhielten, und das¬ jenige Amt, welches urſprünglich das einzige im Staate ge¬ weſen war, zu einem Ehrenamte wurde, das man zwar im Staate nicht miſſen wollte, aber von allen maßgebenden Ein¬ flüſſen ängſtlich fern hielt. Auch in der Kunſt gab es Zeiten, wo der Baumeiſter dem Bildner wie dem Maler ſein Arbeits¬ feld anordnete und Niemand läugnet, daß, wenn dieſe Ober¬ leitung eine von der richtigen Einſicht getragene iſt, die größten, auf anderem Wege nicht zu erzielenden Reſultate gewonnen werden können. Sind aber die einzelnen Künſte einmal jeder Geſammtleitung entwachſen, ſo iſt die alte Reichsverfaſſung mit ihrer monarchiſchen Spitze nicht wieder herzuſtellen. So kann auch die Philoſophie ihre königlichen Voll¬ machten nicht mehr geltend machen; ſie iſt in Gefahr, daß

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/315>, abgerufen am 23.11.2024.