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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Philosophie und Geschichte.
vom Weltgerichte hat hier am meisten Wahrheit, und wenn es
nicht gestattet ist, mit dem Reize kleiner Züge die Darstellung
zu beleben, wie es dem Historiker der neuern Zeit möglich ist,
so entgeht man der Gefahr, den Blick durch die Masse der
Einzelheiten zu verwirren und dem zuletzt Erkundeten zu große
Bedeutung beilegen zu wollen.

Die alte Geschichte gleicht einem Frescobilde, das schlicht
und ernst in großen Zügen die Völkergeschichte darstellt.

Dazu kommt, daß die alten Völker, weil sie sich mehr aus
sich heraus entwickelt haben, eher eine biographische und psycho¬
logische Darstellung gestatten, wo sich gewisse, dem individuellen
Leben entsprechende Entwickelungsgesetze ungezwungen darbieten.

Deshalb ist ja auch nirgends so früh wie bei den Griechen
der Sinn für geschichtliche Betrachtung wach geworden, ein
Sinn, den wir einen philosophischen nennen können, weil er
von Anfang an die einzelnen Dinge in größerem Zusammen¬
hang anzuschauen gesucht hat.

So sieht Herodot den einzelnen Krieg, den er beschreibt,
als Glied einer Kette an, welcher er sich mit Nothwendigkeit
einfügt. Thukydides erkennt den gesetzmäßigen Verlauf der
vaterländischen Geschichte in dem gleichzeitigen Aufkommen der
Tyrannen an den verschiedensten Orten. Mit wahrhaft spe¬
culativem Sinn beurtheilt er den Eindruck, welchen auf einen
Wanderer in späten Jahrhunderten einerseits die Ruinen von
Sparta, andrerseits die von Athen machen würden, und den
großen Staatenkrieg erfaßt er von Anfang an in Bezug auf die
ganze Geschichte und als eine innere Krisis des Volkscharakters.
Mit dem Auftreten Philipp's erkennt Theopomp den Beginn eines
neuen Zeitalters und Polybios ebenso mit Roms Weltherrschaft.
Wie die Entwickelung der Volksgeschichte von Stufe zu Stufe ge¬
leitet wurde, ist sie auf jeder Entwickelungsstufe von den gleich¬
zeitigen Historikern richtig erkannt worden.

Außerdem sind aber auf diesem Boden neben einander
politische Organismen in solcher Fülle zu Tage getreten, daß
daraus nicht nur eine systematische Kenntniß der verschiedenen
möglichen Formen des bürgerlichen Gemeinwesens gewonnen

Philoſophie und Geſchichte.
vom Weltgerichte hat hier am meiſten Wahrheit, und wenn es
nicht geſtattet iſt, mit dem Reize kleiner Züge die Darſtellung
zu beleben, wie es dem Hiſtoriker der neuern Zeit möglich iſt,
ſo entgeht man der Gefahr, den Blick durch die Maſſe der
Einzelheiten zu verwirren und dem zuletzt Erkundeten zu große
Bedeutung beilegen zu wollen.

Die alte Geſchichte gleicht einem Frescobilde, das ſchlicht
und ernſt in großen Zügen die Völkergeſchichte darſtellt.

Dazu kommt, daß die alten Völker, weil ſie ſich mehr aus
ſich heraus entwickelt haben, eher eine biographiſche und pſycho¬
logiſche Darſtellung geſtatten, wo ſich gewiſſe, dem individuellen
Leben entſprechende Entwickelungsgeſetze ungezwungen darbieten.

Deshalb iſt ja auch nirgends ſo früh wie bei den Griechen
der Sinn für geſchichtliche Betrachtung wach geworden, ein
Sinn, den wir einen philoſophiſchen nennen können, weil er
von Anfang an die einzelnen Dinge in größerem Zuſammen¬
hang anzuſchauen geſucht hat.

So ſieht Herodot den einzelnen Krieg, den er beſchreibt,
als Glied einer Kette an, welcher er ſich mit Nothwendigkeit
einfügt. Thukydides erkennt den geſetzmäßigen Verlauf der
vaterländiſchen Geſchichte in dem gleichzeitigen Aufkommen der
Tyrannen an den verſchiedenſten Orten. Mit wahrhaft ſpe¬
culativem Sinn beurtheilt er den Eindruck, welchen auf einen
Wanderer in ſpäten Jahrhunderten einerſeits die Ruinen von
Sparta, andrerſeits die von Athen machen würden, und den
großen Staatenkrieg erfaßt er von Anfang an in Bezug auf die
ganze Geſchichte und als eine innere Kriſis des Volkscharakters.
Mit dem Auftreten Philipp's erkennt Theopomp den Beginn eines
neuen Zeitalters und Polybios ebenſo mit Roms Weltherrſchaft.
Wie die Entwickelung der Volksgeſchichte von Stufe zu Stufe ge¬
leitet wurde, iſt ſie auf jeder Entwickelungsſtufe von den gleich¬
zeitigen Hiſtorikern richtig erkannt worden.

Außerdem ſind aber auf dieſem Boden neben einander
politiſche Organismen in ſolcher Fülle zu Tage getreten, daß
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[298/0314] Philoſophie und Geſchichte. vom Weltgerichte hat hier am meiſten Wahrheit, und wenn es nicht geſtattet iſt, mit dem Reize kleiner Züge die Darſtellung zu beleben, wie es dem Hiſtoriker der neuern Zeit möglich iſt, ſo entgeht man der Gefahr, den Blick durch die Maſſe der Einzelheiten zu verwirren und dem zuletzt Erkundeten zu große Bedeutung beilegen zu wollen. Die alte Geſchichte gleicht einem Frescobilde, das ſchlicht und ernſt in großen Zügen die Völkergeſchichte darſtellt. Dazu kommt, daß die alten Völker, weil ſie ſich mehr aus ſich heraus entwickelt haben, eher eine biographiſche und pſycho¬ logiſche Darſtellung geſtatten, wo ſich gewiſſe, dem individuellen Leben entſprechende Entwickelungsgeſetze ungezwungen darbieten. Deshalb iſt ja auch nirgends ſo früh wie bei den Griechen der Sinn für geſchichtliche Betrachtung wach geworden, ein Sinn, den wir einen philoſophiſchen nennen können, weil er von Anfang an die einzelnen Dinge in größerem Zuſammen¬ hang anzuſchauen geſucht hat. So ſieht Herodot den einzelnen Krieg, den er beſchreibt, als Glied einer Kette an, welcher er ſich mit Nothwendigkeit einfügt. Thukydides erkennt den geſetzmäßigen Verlauf der vaterländiſchen Geſchichte in dem gleichzeitigen Aufkommen der Tyrannen an den verſchiedenſten Orten. Mit wahrhaft ſpe¬ culativem Sinn beurtheilt er den Eindruck, welchen auf einen Wanderer in ſpäten Jahrhunderten einerſeits die Ruinen von Sparta, andrerſeits die von Athen machen würden, und den großen Staatenkrieg erfaßt er von Anfang an in Bezug auf die ganze Geſchichte und als eine innere Kriſis des Volkscharakters. Mit dem Auftreten Philipp's erkennt Theopomp den Beginn eines neuen Zeitalters und Polybios ebenſo mit Roms Weltherrſchaft. Wie die Entwickelung der Volksgeſchichte von Stufe zu Stufe ge¬ leitet wurde, iſt ſie auf jeder Entwickelungsſtufe von den gleich¬ zeitigen Hiſtorikern richtig erkannt worden. Außerdem ſind aber auf dieſem Boden neben einander politiſche Organismen in ſolcher Fülle zu Tage getreten, daß daraus nicht nur eine ſyſtematiſche Kenntniß der verſchiedenen möglichen Formen des bürgerlichen Gemeinweſens gewonnen

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/314>, abgerufen am 23.11.2024.