Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Philosophie und Geschichte. Geschichte Ausblicke gethan, wie auch in seiner metaphysischenWeltbetrachtung nur für das Individuelle und für die Mensch¬ heit eine Stelle zu finden ist. Herder's Verdienst war es, daß er die Idee des Volks zur Geltung gebracht und das Volks¬ thümliche zum Gegenstande wissenschaftlicher Betrachtung ge¬ macht hat. Durch ihn lernte man die verschiedenen Ent¬ wickelungsstufen der Nationalität kennen, junge und alte Völker unterscheiden, beide mit besonderen Gattungen der Kunst, so daß die erhaltenen Denkmäler derselben als Spiegel historischer und vorhistorischer Zustände benutzt wurden. Der ganze Mensch mit seinem Dichten und Denken wurde Gegenstand geschicht¬ licher Betrachtung, Homer und die Bibel historische Quellen, und was bis dahin nie zusammen genannt war, salomonische Dichtung und das Minnelied, Ossian und der Gesang ameri¬ kanischer Indianer, das deutsche Heldenlied und das Skolion der Hellenen wurden als Stimmen der Völker unter gemein¬ same Gesichtspunkte gestellt. So wurde die Geschichte durch die Verbindung mit Phi¬ Andererseits war bei dem unstäten Interesse für alles So war dem Entdecker des Volksthümlichen das wahre Philoſophie und Geſchichte. Geſchichte Ausblicke gethan, wie auch in ſeiner metaphyſiſchenWeltbetrachtung nur für das Individuelle und für die Menſch¬ heit eine Stelle zu finden iſt. Herder's Verdienſt war es, daß er die Idee des Volks zur Geltung gebracht und das Volks¬ thümliche zum Gegenſtande wiſſenſchaftlicher Betrachtung ge¬ macht hat. Durch ihn lernte man die verſchiedenen Ent¬ wickelungsſtufen der Nationalität kennen, junge und alte Völker unterſcheiden, beide mit beſonderen Gattungen der Kunſt, ſo daß die erhaltenen Denkmäler derſelben als Spiegel hiſtoriſcher und vorhiſtoriſcher Zuſtände benutzt wurden. Der ganze Menſch mit ſeinem Dichten und Denken wurde Gegenſtand geſchicht¬ licher Betrachtung, Homer und die Bibel hiſtoriſche Quellen, und was bis dahin nie zuſammen genannt war, ſalomoniſche Dichtung und das Minnelied, Oſſian und der Geſang ameri¬ kaniſcher Indianer, das deutſche Heldenlied und das Skolion der Hellenen wurden als Stimmen der Völker unter gemein¬ ſame Geſichtspunkte geſtellt. So wurde die Geſchichte durch die Verbindung mit Phi¬ Andererſeits war bei dem unſtäten Intereſſe für alles So war dem Entdecker des Volksthümlichen das wahre <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0310" n="294"/><fw place="top" type="header">Philoſophie und Geſchichte.<lb/></fw> Geſchichte Ausblicke gethan, wie auch in ſeiner metaphyſiſchen<lb/> Weltbetrachtung nur für das Individuelle und für die Menſch¬<lb/> heit eine Stelle zu finden iſt. Herder's Verdienſt war es, daß<lb/> er die Idee des Volks zur Geltung gebracht und das Volks¬<lb/> thümliche zum Gegenſtande wiſſenſchaftlicher Betrachtung ge¬<lb/> macht hat. Durch ihn lernte man die verſchiedenen Ent¬<lb/> wickelungsſtufen der Nationalität kennen, junge und alte Völker<lb/> unterſcheiden, beide mit beſonderen Gattungen der Kunſt, ſo<lb/> daß die erhaltenen Denkmäler derſelben als Spiegel hiſtoriſcher<lb/> und vorhiſtoriſcher Zuſtände benutzt wurden. Der ganze Menſch<lb/> mit ſeinem Dichten und Denken wurde Gegenſtand geſchicht¬<lb/> licher Betrachtung, Homer und die Bibel hiſtoriſche Quellen,<lb/> und was bis dahin nie zuſammen genannt war, ſalomoniſche<lb/> Dichtung und das Minnelied, Oſſian und der Geſang ameri¬<lb/> kaniſcher Indianer, das deutſche Heldenlied und das Skolion<lb/> der Hellenen wurden als Stimmen der Völker unter gemein¬<lb/> ſame Geſichtspunkte geſtellt.</p><lb/> <p>So wurde die Geſchichte durch die Verbindung mit Phi¬<lb/> loſophie und Poeſie neu befruchtet, und wer kann ermeſſen,<lb/> wie Herder's Ideen zur Philoſophie der Geſchichte, welche<lb/> wie Samenkörner in die Welt ausgeſtreut wurden, nach allen<lb/> Seiten anregend und fruchtbringend gewirkt haben!</p><lb/> <p>Andererſeits war bei dem unſtäten Intereſſe für alles<lb/> Menſchliche, dem geiſtreichen Herumflattern von einer Blüthe<lb/> zur anderen der Mangel an Vertiefung in das Einzelne fühl¬<lb/> bar. Herder ſelbſt verweilte mit Vorliebe in dem Zwielichte<lb/> vorgeſchichtlicher Zuſtände und achtete bei Betrachtung des<lb/> Volksthümlichen nicht auf das Beſondere und Charakteriſtiſche,<lb/> ſondern auf das Allen Gemeinſame, da er in den Einzelweſen<lb/> und Einzelvölkern nur das Abbild der Menſchheit erkennen<lb/> und allen Völkern der Erde nur ein Ziel, die Darſtellung des<lb/> rein Menſchlichen, ſtellen wollte.</p><lb/> <p>So war dem Entdecker des Volksthümlichen das wahre<lb/> Volksthum doch wieder unter den Händen entſchwunden oder<lb/> vielmehr nie zur vollen Geſtaltung gelangt. Wie bei Leibniz<lb/> war auch hier unter dem Einfluß des philoſophirenden Ge¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [294/0310]
Philoſophie und Geſchichte.
Geſchichte Ausblicke gethan, wie auch in ſeiner metaphyſiſchen
Weltbetrachtung nur für das Individuelle und für die Menſch¬
heit eine Stelle zu finden iſt. Herder's Verdienſt war es, daß
er die Idee des Volks zur Geltung gebracht und das Volks¬
thümliche zum Gegenſtande wiſſenſchaftlicher Betrachtung ge¬
macht hat. Durch ihn lernte man die verſchiedenen Ent¬
wickelungsſtufen der Nationalität kennen, junge und alte Völker
unterſcheiden, beide mit beſonderen Gattungen der Kunſt, ſo
daß die erhaltenen Denkmäler derſelben als Spiegel hiſtoriſcher
und vorhiſtoriſcher Zuſtände benutzt wurden. Der ganze Menſch
mit ſeinem Dichten und Denken wurde Gegenſtand geſchicht¬
licher Betrachtung, Homer und die Bibel hiſtoriſche Quellen,
und was bis dahin nie zuſammen genannt war, ſalomoniſche
Dichtung und das Minnelied, Oſſian und der Geſang ameri¬
kaniſcher Indianer, das deutſche Heldenlied und das Skolion
der Hellenen wurden als Stimmen der Völker unter gemein¬
ſame Geſichtspunkte geſtellt.
So wurde die Geſchichte durch die Verbindung mit Phi¬
loſophie und Poeſie neu befruchtet, und wer kann ermeſſen,
wie Herder's Ideen zur Philoſophie der Geſchichte, welche
wie Samenkörner in die Welt ausgeſtreut wurden, nach allen
Seiten anregend und fruchtbringend gewirkt haben!
Andererſeits war bei dem unſtäten Intereſſe für alles
Menſchliche, dem geiſtreichen Herumflattern von einer Blüthe
zur anderen der Mangel an Vertiefung in das Einzelne fühl¬
bar. Herder ſelbſt verweilte mit Vorliebe in dem Zwielichte
vorgeſchichtlicher Zuſtände und achtete bei Betrachtung des
Volksthümlichen nicht auf das Beſondere und Charakteriſtiſche,
ſondern auf das Allen Gemeinſame, da er in den Einzelweſen
und Einzelvölkern nur das Abbild der Menſchheit erkennen
und allen Völkern der Erde nur ein Ziel, die Darſtellung des
rein Menſchlichen, ſtellen wollte.
So war dem Entdecker des Volksthümlichen das wahre
Volksthum doch wieder unter den Händen entſchwunden oder
vielmehr nie zur vollen Geſtaltung gelangt. Wie bei Leibniz
war auch hier unter dem Einfluß des philoſophirenden Ge¬
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