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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das Mittleramt der Philologie.
natürlichen Gebundenheit mehr oder weniger geblieben sind,
haben sich die klassischen Völker zu einer Freiheit des geistigen
Lebens erhoben, welche innerhalb der gegebenen Beschränkung
das höchste Maß reicher Entfaltung gewonnen hat. Hier also
finden wir den vollen Reiz freier Geschichtsentwickelung mit
der Klarheit und Uebersichtlichkeit eines organischen Lebens
und der Nothwendigkeit eines Naturprocesses verbunden.

Ja, auch der wichtigste Gegenstand aller Philologie, der
Schlüssel jedes Verständnisses und zugleich das unergründliche
Gebiet tiefster Forschung, die Sprache, -- steht sie nicht recht
eigentlich in der Mitte zwischen Geschichte und Naturkunde,
ist sie nicht beiden Gebieten der Wissenschaft innerlich ver¬
wandt? Auf der einen Seite ein natürlich Gewordenes, das
keines Menschen Witz ersonnen und gebildet hat, das aus der
Natur des menschlichen Wesens mit Nothwendigkeit hervorgeht
und dessen Gestaltung von der Willkür des Einzelnen eben so
unabhängig ist, wie der Organismus des Leibes und wie der
Bau der Pflanze; auf der anderen Seite aber eine freie That
des Geistes, welcher nirgends den Stoff selbständiger zu be¬
herrschen scheint. Darum giebt es kein treueres Abbild des
Volks- und Menschengeistes, als die Sprache; mit der Fest¬
stellung seiner Sprache beginnt die selbständige Geschichte jedes
Volks, und der Einzelne bekundet seine geistige Reife, indem
er der Sprache mächtig ist. So wunderbar vereinigt sie in sich
das Wesen freier Selbstbestimmung und natürlicher Entwickelung,
so durchdringt sich in ihr Freiheit und Nothwendigkeit.

So ist, glaube ich, die Philologie auch durch die Natur
ihrer Objecte zu einer vermittelnden Stellung zwischen den
Studienfächern der Universität berufen, und da es sich hierbei
nicht um Vorrang und Vorrechte handelt, sondern nur um
die Gunst einer allseitigen Theilnahme, so dürfte ich wohl
hoffen, keinem Widerspruche zu begegnen, wenn nicht vielleicht
ein Punkt mit scheinbarer Gültigkeit mir entgegen gehalten
werden sollte.

Alle Achtung, sagt man den Philologen, vor euren Stu¬
dien; unschätzbar ist ihre sorgsame Pflege, um unsere Jugend

Das Mittleramt der Philologie.
natürlichen Gebundenheit mehr oder weniger geblieben ſind,
haben ſich die klaſſiſchen Völker zu einer Freiheit des geiſtigen
Lebens erhoben, welche innerhalb der gegebenen Beſchränkung
das höchſte Maß reicher Entfaltung gewonnen hat. Hier alſo
finden wir den vollen Reiz freier Geſchichtsentwickelung mit
der Klarheit und Ueberſichtlichkeit eines organiſchen Lebens
und der Nothwendigkeit eines Naturproceſſes verbunden.

Ja, auch der wichtigſte Gegenſtand aller Philologie, der
Schlüſſel jedes Verſtändniſſes und zugleich das unergründliche
Gebiet tiefſter Forſchung, die Sprache, — ſteht ſie nicht recht
eigentlich in der Mitte zwiſchen Geſchichte und Naturkunde,
iſt ſie nicht beiden Gebieten der Wiſſenſchaft innerlich ver¬
wandt? Auf der einen Seite ein natürlich Gewordenes, das
keines Menſchen Witz erſonnen und gebildet hat, das aus der
Natur des menſchlichen Weſens mit Nothwendigkeit hervorgeht
und deſſen Geſtaltung von der Willkür des Einzelnen eben ſo
unabhängig iſt, wie der Organismus des Leibes und wie der
Bau der Pflanze; auf der anderen Seite aber eine freie That
des Geiſtes, welcher nirgends den Stoff ſelbſtändiger zu be¬
herrſchen ſcheint. Darum giebt es kein treueres Abbild des
Volks- und Menſchengeiſtes, als die Sprache; mit der Feſt¬
ſtellung ſeiner Sprache beginnt die ſelbſtändige Geſchichte jedes
Volks, und der Einzelne bekundet ſeine geiſtige Reife, indem
er der Sprache mächtig iſt. So wunderbar vereinigt ſie in ſich
das Weſen freier Selbſtbeſtimmung und natürlicher Entwickelung,
ſo durchdringt ſich in ihr Freiheit und Nothwendigkeit.

So iſt, glaube ich, die Philologie auch durch die Natur
ihrer Objecte zu einer vermittelnden Stellung zwiſchen den
Studienfächern der Univerſität berufen, und da es ſich hierbei
nicht um Vorrang und Vorrechte handelt, ſondern nur um
die Gunſt einer allſeitigen Theilnahme, ſo dürfte ich wohl
hoffen, keinem Widerſpruche zu begegnen, wenn nicht vielleicht
ein Punkt mit ſcheinbarer Gültigkeit mir entgegen gehalten
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dien; unſchätzbar iſt ihre ſorgſame Pflege, um unſere Jugend

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[15/0031] Das Mittleramt der Philologie. natürlichen Gebundenheit mehr oder weniger geblieben ſind, haben ſich die klaſſiſchen Völker zu einer Freiheit des geiſtigen Lebens erhoben, welche innerhalb der gegebenen Beſchränkung das höchſte Maß reicher Entfaltung gewonnen hat. Hier alſo finden wir den vollen Reiz freier Geſchichtsentwickelung mit der Klarheit und Ueberſichtlichkeit eines organiſchen Lebens und der Nothwendigkeit eines Naturproceſſes verbunden. Ja, auch der wichtigſte Gegenſtand aller Philologie, der Schlüſſel jedes Verſtändniſſes und zugleich das unergründliche Gebiet tiefſter Forſchung, die Sprache, — ſteht ſie nicht recht eigentlich in der Mitte zwiſchen Geſchichte und Naturkunde, iſt ſie nicht beiden Gebieten der Wiſſenſchaft innerlich ver¬ wandt? Auf der einen Seite ein natürlich Gewordenes, das keines Menſchen Witz erſonnen und gebildet hat, das aus der Natur des menſchlichen Weſens mit Nothwendigkeit hervorgeht und deſſen Geſtaltung von der Willkür des Einzelnen eben ſo unabhängig iſt, wie der Organismus des Leibes und wie der Bau der Pflanze; auf der anderen Seite aber eine freie That des Geiſtes, welcher nirgends den Stoff ſelbſtändiger zu be¬ herrſchen ſcheint. Darum giebt es kein treueres Abbild des Volks- und Menſchengeiſtes, als die Sprache; mit der Feſt¬ ſtellung ſeiner Sprache beginnt die ſelbſtändige Geſchichte jedes Volks, und der Einzelne bekundet ſeine geiſtige Reife, indem er der Sprache mächtig iſt. So wunderbar vereinigt ſie in ſich das Weſen freier Selbſtbeſtimmung und natürlicher Entwickelung, ſo durchdringt ſich in ihr Freiheit und Nothwendigkeit. So iſt, glaube ich, die Philologie auch durch die Natur ihrer Objecte zu einer vermittelnden Stellung zwiſchen den Studienfächern der Univerſität berufen, und da es ſich hierbei nicht um Vorrang und Vorrechte handelt, ſondern nur um die Gunſt einer allſeitigen Theilnahme, ſo dürfte ich wohl hoffen, keinem Widerſpruche zu begegnen, wenn nicht vielleicht ein Punkt mit ſcheinbarer Gültigkeit mir entgegen gehalten werden ſollte. Alle Achtung, ſagt man den Philologen, vor euren Stu¬ dien; unſchätzbar iſt ihre ſorgſame Pflege, um unſere Jugend

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/31>, abgerufen am 27.11.2024.