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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Philosophie und Geschichte.
selten vorhanden gewesen. Nachdem Ethik und Politik aus
einander gegangen sind, ist bis auf die neuere Zeit immer der
einzelne Mensch in seinem Verhältniß zu Gott und Welt, mit
seinen Pflichten und Aufgaben der eigentliche Gegenstand phi¬
losophischer Forschung gewesen, nicht aber der dem Gemeinde¬
leben angehörige. Wo der Sinn für bürgerliches Gemein¬
wesen fehlt, kann das geschichtliche Studium keinen fesselnden
Reiz üben. Daher die Gleichgültigkeit der Philosophen gegen
dasselbe von den Zeiten der Stoa an, das völlige Auseinander¬
gehen von Philosophie und Geschichte, und wer zuerst von
Leibniz' universaler Thätigkeit hört, wird gewiß weniger dar¬
über staunen, daß der Philosoph mathematische Methoden ent¬
deckt, als daß er Annalen geschrieben hat. In seines Nach¬
folgers Herbart System ist für Geschichte kein Platz vorhanden
und die neueste Philosophie hat sie aus ihrem Gebiete geradezu
ausgewiesen; ja sie hat ihr, weil sie einer philosophischen Be¬
handlung unfähig sei, selbst den Namen einer Wissenschaft
abgesprochen; denn sie sei nur ein mehr oder minder lücken¬
haftes Wissen von einzelnen Thatsachen.

Indessen hat es Philosophen gegeben, welche vor der
wüsten Masse des historischen Materials nicht zurückschreckten
und nicht nur die gelegentliche Verwerthung desselben für ihre
Zwecke, sondern seine vollständige Verarbeitung und specula¬
tive Bewältigung als eine unerläßliche Aufgabe des philoso¬
phischen Denkens hinstellten. So ist die Philosophie der Ge¬
schichte ein wesentlicher Theil des Hegel'schen Systems geworden,
und welcher Historiker weiß nicht, wie fruchtbar dieser kühne
Schritt gewesen ist, wie der Blick für geschichtliche Entwickelung
sich dadurch geschärft hat, wie manche Vorurtheile beseitigt und
neue Einblicke in den Zusammenhang der Culturen geöffnet
sind! Aber ein nach beiden Seiten befriedigendes Resultat ist
auch so nicht erreicht worden. Denn wenn man in der Ge¬
schichte nur einen mit logischer Nothwendigkeit sich vollziehen¬
den Proceß sieht, in welchem die Völker willenlose Werkzeuge
der Idee sind, so wird die Unbefangenheit der Beobachtung
und das warme Interesse an der Fülle des Sonderlebens in

Philoſophie und Geſchichte.
ſelten vorhanden geweſen. Nachdem Ethik und Politik aus
einander gegangen ſind, iſt bis auf die neuere Zeit immer der
einzelne Menſch in ſeinem Verhältniß zu Gott und Welt, mit
ſeinen Pflichten und Aufgaben der eigentliche Gegenſtand phi¬
loſophiſcher Forſchung geweſen, nicht aber der dem Gemeinde¬
leben angehörige. Wo der Sinn für bürgerliches Gemein¬
weſen fehlt, kann das geſchichtliche Studium keinen feſſelnden
Reiz üben. Daher die Gleichgültigkeit der Philoſophen gegen
daſſelbe von den Zeiten der Stoa an, das völlige Auseinander¬
gehen von Philoſophie und Geſchichte, und wer zuerſt von
Leibniz' univerſaler Thätigkeit hört, wird gewiß weniger dar¬
über ſtaunen, daß der Philoſoph mathematiſche Methoden ent¬
deckt, als daß er Annalen geſchrieben hat. In ſeines Nach¬
folgers Herbart Syſtem iſt für Geſchichte kein Platz vorhanden
und die neueſte Philoſophie hat ſie aus ihrem Gebiete geradezu
ausgewieſen; ja ſie hat ihr, weil ſie einer philoſophiſchen Be¬
handlung unfähig ſei, ſelbſt den Namen einer Wiſſenſchaft
abgeſprochen; denn ſie ſei nur ein mehr oder minder lücken¬
haftes Wiſſen von einzelnen Thatſachen.

Indeſſen hat es Philoſophen gegeben, welche vor der
wüſten Maſſe des hiſtoriſchen Materials nicht zurückſchreckten
und nicht nur die gelegentliche Verwerthung deſſelben für ihre
Zwecke, ſondern ſeine vollſtändige Verarbeitung und ſpecula¬
tive Bewältigung als eine unerläßliche Aufgabe des philoſo¬
phiſchen Denkens hinſtellten. So iſt die Philoſophie der Ge¬
ſchichte ein weſentlicher Theil des Hegel'ſchen Syſtems geworden,
und welcher Hiſtoriker weiß nicht, wie fruchtbar dieſer kühne
Schritt geweſen iſt, wie der Blick für geſchichtliche Entwickelung
ſich dadurch geſchärft hat, wie manche Vorurtheile beſeitigt und
neue Einblicke in den Zuſammenhang der Culturen geöffnet
ſind! Aber ein nach beiden Seiten befriedigendes Reſultat iſt
auch ſo nicht erreicht worden. Denn wenn man in der Ge¬
ſchichte nur einen mit logiſcher Nothwendigkeit ſich vollziehen¬
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[290/0306] Philoſophie und Geſchichte. ſelten vorhanden geweſen. Nachdem Ethik und Politik aus einander gegangen ſind, iſt bis auf die neuere Zeit immer der einzelne Menſch in ſeinem Verhältniß zu Gott und Welt, mit ſeinen Pflichten und Aufgaben der eigentliche Gegenſtand phi¬ loſophiſcher Forſchung geweſen, nicht aber der dem Gemeinde¬ leben angehörige. Wo der Sinn für bürgerliches Gemein¬ weſen fehlt, kann das geſchichtliche Studium keinen feſſelnden Reiz üben. Daher die Gleichgültigkeit der Philoſophen gegen daſſelbe von den Zeiten der Stoa an, das völlige Auseinander¬ gehen von Philoſophie und Geſchichte, und wer zuerſt von Leibniz' univerſaler Thätigkeit hört, wird gewiß weniger dar¬ über ſtaunen, daß der Philoſoph mathematiſche Methoden ent¬ deckt, als daß er Annalen geſchrieben hat. In ſeines Nach¬ folgers Herbart Syſtem iſt für Geſchichte kein Platz vorhanden und die neueſte Philoſophie hat ſie aus ihrem Gebiete geradezu ausgewieſen; ja ſie hat ihr, weil ſie einer philoſophiſchen Be¬ handlung unfähig ſei, ſelbſt den Namen einer Wiſſenſchaft abgeſprochen; denn ſie ſei nur ein mehr oder minder lücken¬ haftes Wiſſen von einzelnen Thatſachen. Indeſſen hat es Philoſophen gegeben, welche vor der wüſten Maſſe des hiſtoriſchen Materials nicht zurückſchreckten und nicht nur die gelegentliche Verwerthung deſſelben für ihre Zwecke, ſondern ſeine vollſtändige Verarbeitung und ſpecula¬ tive Bewältigung als eine unerläßliche Aufgabe des philoſo¬ phiſchen Denkens hinſtellten. So iſt die Philoſophie der Ge¬ ſchichte ein weſentlicher Theil des Hegel'ſchen Syſtems geworden, und welcher Hiſtoriker weiß nicht, wie fruchtbar dieſer kühne Schritt geweſen iſt, wie der Blick für geſchichtliche Entwickelung ſich dadurch geſchärft hat, wie manche Vorurtheile beſeitigt und neue Einblicke in den Zuſammenhang der Culturen geöffnet ſind! Aber ein nach beiden Seiten befriedigendes Reſultat iſt auch ſo nicht erreicht worden. Denn wenn man in der Ge¬ ſchichte nur einen mit logiſcher Nothwendigkeit ſich vollziehen¬ den Proceß ſieht, in welchem die Völker willenloſe Werkzeuge der Idee ſind, ſo wird die Unbefangenheit der Beobachtung und das warme Intereſſe an der Fülle des Sonderlebens in

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/306>, abgerufen am 23.11.2024.