Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Der historische Sinn der Griechen.
war der natürliche Niederschlag dessen, was das Volk über
seine Vorzeit wußte; was sich aber so im Volksbewußtsein
festgesetzt und als Ausdruck desselben bewährt hat, trägt einen
Kern unzweifelhafter Wahrheit in sich. Die sorgfältigsten Er¬
mittelungen können täuschen, Herodot und Thukydides können
irren, aber die echte Volkssage ist, richtig verstanden, das Ge¬
wisseste, was es giebt.

Die Muse des Epos war die Tochter der Erinnerung;
der Sänger war der Hüter derselben, das lebendige Archiv.
Darum war kein Gegensatz zwischen Dichtung und Geschichte.
Die Geschichte der Hellenen war poetischer als bei andern
Völkern, aber die Poesie geschichtlicher. Inhalt des Epos
war das bewegte Menschenleben im Staate und im Kriege,
zu Land und zu Meer; die Darstellung desselben also die beste
Schule des Gedächtnisses, die beste Vorübung für jede ge¬
schichtliche Darstellung, und je enger sich die spätere Poesie
dem Epos anschließt, um so mehr theilt sie diese historische
Richtung. Jedes Gedicht Pindar's, das den eben gewonnenen
Sieg feiert, knüpft das Glück der Gegenwart an die Vorzeit
an; wie Herodot, so faßte Aeschylos die vorzeitigen und gegen¬
wärtigen Kämpfe zwischen Asien und Europa in ein Bild zu¬
sammen. Mit echt historischem Sinne nahm die griechische
Kunst das Gegenwärtige nie als einen einzelnen Punkt, sondern
in lebendigem Zusammenhange mit der Vergangenheit, und
eben so lebte man der Ueberzeugung, daß man späteren Ge¬
schlechtern Rechenschaft zu geben habe. So weist Pindar den
Tyrannen von Syrakus auf das Urtheil der Geschichte hin:
"Laß dich nicht von Schmeichlern bethören. Der Spruch der
Nachwelt richtet über unser Leben durch Geschichtschreiber und
Sänger!" Als sich nun der Geschichtschreiber vom Sänger
trennte und seinem besonderen Berufe nachging, fand er im
griechischen Staatenleben freilich keinen Stoff zu einer äußer¬
lich registrirenden Annalistik, einer im conventionellen Stile
abzufassenden Hof- und Reichsgeschichte, aber er fand einen
Stoff, der sich garnicht bearbeiten ließ, ohne daß man in die
inneren Beziehungen des menschlichen Lebens eindrang, eine

Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
war der natürliche Niederſchlag deſſen, was das Volk über
ſeine Vorzeit wußte; was ſich aber ſo im Volksbewußtſein
feſtgeſetzt und als Ausdruck deſſelben bewährt hat, trägt einen
Kern unzweifelhafter Wahrheit in ſich. Die ſorgfältigſten Er¬
mittelungen können täuſchen, Herodot und Thukydides können
irren, aber die echte Volksſage iſt, richtig verſtanden, das Ge¬
wiſſeſte, was es giebt.

Die Muſe des Epos war die Tochter der Erinnerung;
der Sänger war der Hüter derſelben, das lebendige Archiv.
Darum war kein Gegenſatz zwiſchen Dichtung und Geſchichte.
Die Geſchichte der Hellenen war poetiſcher als bei andern
Völkern, aber die Poeſie geſchichtlicher. Inhalt des Epos
war das bewegte Menſchenleben im Staate und im Kriege,
zu Land und zu Meer; die Darſtellung deſſelben alſo die beſte
Schule des Gedächtniſſes, die beſte Vorübung für jede ge¬
ſchichtliche Darſtellung, und je enger ſich die ſpätere Poeſie
dem Epos anſchließt, um ſo mehr theilt ſie dieſe hiſtoriſche
Richtung. Jedes Gedicht Pindar's, das den eben gewonnenen
Sieg feiert, knüpft das Glück der Gegenwart an die Vorzeit
an; wie Herodot, ſo faßte Aeſchylos die vorzeitigen und gegen¬
wärtigen Kämpfe zwiſchen Aſien und Europa in ein Bild zu¬
ſammen. Mit echt hiſtoriſchem Sinne nahm die griechiſche
Kunſt das Gegenwärtige nie als einen einzelnen Punkt, ſondern
in lebendigem Zuſammenhange mit der Vergangenheit, und
eben ſo lebte man der Ueberzeugung, daß man ſpäteren Ge¬
ſchlechtern Rechenſchaft zu geben habe. So weiſt Pindar den
Tyrannen von Syrakus auf das Urtheil der Geſchichte hin:
»Laß dich nicht von Schmeichlern bethören. Der Spruch der
Nachwelt richtet über unſer Leben durch Geſchichtſchreiber und
Sänger!« Als ſich nun der Geſchichtſchreiber vom Sänger
trennte und ſeinem beſonderen Berufe nachging, fand er im
griechiſchen Staatenleben freilich keinen Stoff zu einer äußer¬
lich regiſtrirenden Annaliſtik, einer im conventionellen Stile
abzufaſſenden Hof- und Reichsgeſchichte, aber er fand einen
Stoff, der ſich garnicht bearbeiten ließ, ohne daß man in die
inneren Beziehungen des menſchlichen Lebens eindrang, eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0297" n="281"/><fw place="top" type="header">Der hi&#x017F;tori&#x017F;che Sinn der Griechen.<lb/></fw> war der natürliche Nieder&#x017F;chlag de&#x017F;&#x017F;en, was das Volk über<lb/>
&#x017F;eine Vorzeit wußte; was &#x017F;ich aber &#x017F;o im Volksbewußt&#x017F;ein<lb/>
fe&#x017F;tge&#x017F;etzt und als Ausdruck de&#x017F;&#x017F;elben bewährt hat, trägt einen<lb/>
Kern unzweifelhafter Wahrheit in &#x017F;ich. Die &#x017F;orgfältig&#x017F;ten Er¬<lb/>
mittelungen können täu&#x017F;chen, Herodot und Thukydides können<lb/>
irren, aber die echte Volks&#x017F;age i&#x017F;t, richtig ver&#x017F;tanden, das Ge¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;e&#x017F;te, was es giebt.</p><lb/>
        <p>Die Mu&#x017F;e des Epos war die Tochter der Erinnerung;<lb/>
der Sänger war der Hüter der&#x017F;elben, das lebendige Archiv.<lb/>
Darum war kein Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen Dichtung und Ge&#x017F;chichte.<lb/>
Die Ge&#x017F;chichte der Hellenen war poeti&#x017F;cher als bei andern<lb/>
Völkern, aber die Poe&#x017F;ie ge&#x017F;chichtlicher. Inhalt des Epos<lb/>
war das bewegte Men&#x017F;chenleben im Staate und im Kriege,<lb/>
zu Land und zu Meer; die Dar&#x017F;tellung de&#x017F;&#x017F;elben al&#x017F;o die be&#x017F;te<lb/>
Schule des Gedächtni&#x017F;&#x017F;es, die be&#x017F;te Vorübung für jede ge¬<lb/>
&#x017F;chichtliche Dar&#x017F;tellung, und je enger &#x017F;ich die &#x017F;pätere Poe&#x017F;ie<lb/>
dem Epos an&#x017F;chließt, um &#x017F;o mehr theilt &#x017F;ie die&#x017F;e hi&#x017F;tori&#x017F;che<lb/>
Richtung. Jedes Gedicht Pindar's, das den eben gewonnenen<lb/>
Sieg feiert, knüpft das Glück der Gegenwart an die Vorzeit<lb/>
an; wie Herodot, &#x017F;o faßte Ae&#x017F;chylos die vorzeitigen und gegen¬<lb/>
wärtigen Kämpfe zwi&#x017F;chen A&#x017F;ien und Europa in ein Bild zu¬<lb/>
&#x017F;ammen. Mit echt hi&#x017F;tori&#x017F;chem Sinne nahm die griechi&#x017F;che<lb/>
Kun&#x017F;t das Gegenwärtige nie als einen einzelnen Punkt, &#x017F;ondern<lb/>
in lebendigem Zu&#x017F;ammenhange mit der Vergangenheit, und<lb/>
eben &#x017F;o lebte man der Ueberzeugung, daß man &#x017F;päteren Ge¬<lb/>
&#x017F;chlechtern Rechen&#x017F;chaft zu geben habe. So wei&#x017F;t Pindar den<lb/>
Tyrannen von Syrakus auf das Urtheil der Ge&#x017F;chichte hin:<lb/>
»Laß dich nicht von Schmeichlern bethören. Der Spruch der<lb/>
Nachwelt richtet über un&#x017F;er Leben durch Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber und<lb/>
Sänger!« Als &#x017F;ich nun der Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber vom Sänger<lb/>
trennte und &#x017F;einem be&#x017F;onderen Berufe nachging, fand er im<lb/>
griechi&#x017F;chen Staatenleben freilich keinen Stoff zu einer äußer¬<lb/>
lich regi&#x017F;trirenden Annali&#x017F;tik, einer im conventionellen Stile<lb/>
abzufa&#x017F;&#x017F;enden Hof- und Reichsge&#x017F;chichte, aber er fand einen<lb/>
Stoff, der &#x017F;ich garnicht bearbeiten ließ, ohne daß man in die<lb/>
inneren Beziehungen des men&#x017F;chlichen Lebens eindrang, eine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0297] Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. war der natürliche Niederſchlag deſſen, was das Volk über ſeine Vorzeit wußte; was ſich aber ſo im Volksbewußtſein feſtgeſetzt und als Ausdruck deſſelben bewährt hat, trägt einen Kern unzweifelhafter Wahrheit in ſich. Die ſorgfältigſten Er¬ mittelungen können täuſchen, Herodot und Thukydides können irren, aber die echte Volksſage iſt, richtig verſtanden, das Ge¬ wiſſeſte, was es giebt. Die Muſe des Epos war die Tochter der Erinnerung; der Sänger war der Hüter derſelben, das lebendige Archiv. Darum war kein Gegenſatz zwiſchen Dichtung und Geſchichte. Die Geſchichte der Hellenen war poetiſcher als bei andern Völkern, aber die Poeſie geſchichtlicher. Inhalt des Epos war das bewegte Menſchenleben im Staate und im Kriege, zu Land und zu Meer; die Darſtellung deſſelben alſo die beſte Schule des Gedächtniſſes, die beſte Vorübung für jede ge¬ ſchichtliche Darſtellung, und je enger ſich die ſpätere Poeſie dem Epos anſchließt, um ſo mehr theilt ſie dieſe hiſtoriſche Richtung. Jedes Gedicht Pindar's, das den eben gewonnenen Sieg feiert, knüpft das Glück der Gegenwart an die Vorzeit an; wie Herodot, ſo faßte Aeſchylos die vorzeitigen und gegen¬ wärtigen Kämpfe zwiſchen Aſien und Europa in ein Bild zu¬ ſammen. Mit echt hiſtoriſchem Sinne nahm die griechiſche Kunſt das Gegenwärtige nie als einen einzelnen Punkt, ſondern in lebendigem Zuſammenhange mit der Vergangenheit, und eben ſo lebte man der Ueberzeugung, daß man ſpäteren Ge¬ ſchlechtern Rechenſchaft zu geben habe. So weiſt Pindar den Tyrannen von Syrakus auf das Urtheil der Geſchichte hin: »Laß dich nicht von Schmeichlern bethören. Der Spruch der Nachwelt richtet über unſer Leben durch Geſchichtſchreiber und Sänger!« Als ſich nun der Geſchichtſchreiber vom Sänger trennte und ſeinem beſonderen Berufe nachging, fand er im griechiſchen Staatenleben freilich keinen Stoff zu einer äußer¬ lich regiſtrirenden Annaliſtik, einer im conventionellen Stile abzufaſſenden Hof- und Reichsgeſchichte, aber er fand einen Stoff, der ſich garnicht bearbeiten ließ, ohne daß man in die inneren Beziehungen des menſchlichen Lebens eindrang, eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/297
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/297>, abgerufen am 23.11.2024.