Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Der historische Sinn der Griechen. über alles Unrecht, an dem die attische Demokratie Schuldsei, ein möglichst vollständiges Sündenregister aufzustellen. Das sind die Schwächen der Griechen auf dem Felde der Aber sind sie denn in der That zurückgeblieben? Das ist die Frage, welche uns auf die andere Seite der Gewiß hat die Geschichte der Hellenen lange einen sagen¬ Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. über alles Unrecht, an dem die attiſche Demokratie Schuldſei, ein möglichſt vollſtändiges Sündenregiſter aufzuſtellen. Das ſind die Schwächen der Griechen auf dem Felde der Aber ſind ſie denn in der That zurückgeblieben? Das iſt die Frage, welche uns auf die andere Seite der Gewiß hat die Geſchichte der Hellenen lange einen ſagen¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0296" n="280"/><fw place="top" type="header">Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.<lb/></fw>über alles Unrecht, an dem die attiſche Demokratie Schuld<lb/> ſei, ein möglichſt vollſtändiges Sündenregiſter aufzuſtellen.</p><lb/> <p>Das ſind die Schwächen der Griechen auf dem Felde der<lb/> Geſchichte, und daraus erklärt ſich, warum ſie als Pfleger<lb/> geſchichtlicher Wahrheit keine ſo allgemeine Anerkennung ge¬<lb/> funden haben, wie in Poeſie, bildender Kunſt, Philoſophie und<lb/> Beredſamkeit, und warum ſie in einem der wichtigſten Zweige<lb/> höherer Cultur nach dem Urtheile weiſer Männer ihres eig¬<lb/> nen Volks hinter den Völkern des Morgenlandes zurückge¬<lb/> blieben ſind.</p><lb/> <p>Aber ſind ſie denn in der That zurückgeblieben?</p><lb/> <p>Das iſt die Frage, welche uns auf die andere Seite der<lb/> Betrachtung führt.</p><lb/> <p>Gewiß hat die Geſchichte der Hellenen lange einen ſagen¬<lb/> haften Charakter behalten. Ihre Künſtler haben die Hiſtoria<lb/> dargeſtellt, wie ſie Weihrauch ſtreut in die Opferflamme, welche<lb/> vor dem Homeros entzündet iſt, und man hat in der urtheilsloſen<lb/> Ueberſchätzung des Dichters einen Beweis für die lang an¬<lb/> dauernde Unreife des geſchichtlichen Sinns gefunden. Aber<lb/> man erwäge den eigenthümlichen Charakter der griechiſchen<lb/> Volksſage! Da ſind keine Nebelbilder, die in unſichere Däm¬<lb/> merung zerfließen, keine ſymboliſchen Figuren, die nur etwas<lb/> bedeuten ſollen, was dem religiöſen Glauben angehört; ſondern<lb/> helle, lebensvolle Geſtalten, die in beſtimmten Gegenden zu<lb/> Hauſe ſind und beſtimmten Stämmen angehören. Es ſind<lb/> Geſtalten, im Morgendufte der Sage vergrößert und verklärt,<lb/> aber keine Phantaſiegebilde, ſondern es ſind hiſtoriſche Ge¬<lb/> ſtalten; was ſie vollbringen, ſind wirklich vollbrachte Thaten<lb/> griechiſcher Stämme, deren Ruhm auf ihre alten Heerfürſten<lb/> übertragen iſt. Die Mauern von Ilion und Mykenai zeugen<lb/> noch heute von der Herrſchermacht dieſer Fürſten, von ihrem<lb/> Reichthum und ihren auswärtigen Verbindungen. Wie lange<lb/> hielt man die lykiſchen Baumeiſter in Argolis für eitel Fa¬<lb/> belei, jetzt ſind wir im Stande, an den Burgmauern von Ar¬<lb/> golis die lykiſche Technik nachzuweiſen. Mit bewunderungs¬<lb/> würdiger Treue haben die Hellenen ihre Sage gehütet; ſie<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [280/0296]
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
über alles Unrecht, an dem die attiſche Demokratie Schuld
ſei, ein möglichſt vollſtändiges Sündenregiſter aufzuſtellen.
Das ſind die Schwächen der Griechen auf dem Felde der
Geſchichte, und daraus erklärt ſich, warum ſie als Pfleger
geſchichtlicher Wahrheit keine ſo allgemeine Anerkennung ge¬
funden haben, wie in Poeſie, bildender Kunſt, Philoſophie und
Beredſamkeit, und warum ſie in einem der wichtigſten Zweige
höherer Cultur nach dem Urtheile weiſer Männer ihres eig¬
nen Volks hinter den Völkern des Morgenlandes zurückge¬
blieben ſind.
Aber ſind ſie denn in der That zurückgeblieben?
Das iſt die Frage, welche uns auf die andere Seite der
Betrachtung führt.
Gewiß hat die Geſchichte der Hellenen lange einen ſagen¬
haften Charakter behalten. Ihre Künſtler haben die Hiſtoria
dargeſtellt, wie ſie Weihrauch ſtreut in die Opferflamme, welche
vor dem Homeros entzündet iſt, und man hat in der urtheilsloſen
Ueberſchätzung des Dichters einen Beweis für die lang an¬
dauernde Unreife des geſchichtlichen Sinns gefunden. Aber
man erwäge den eigenthümlichen Charakter der griechiſchen
Volksſage! Da ſind keine Nebelbilder, die in unſichere Däm¬
merung zerfließen, keine ſymboliſchen Figuren, die nur etwas
bedeuten ſollen, was dem religiöſen Glauben angehört; ſondern
helle, lebensvolle Geſtalten, die in beſtimmten Gegenden zu
Hauſe ſind und beſtimmten Stämmen angehören. Es ſind
Geſtalten, im Morgendufte der Sage vergrößert und verklärt,
aber keine Phantaſiegebilde, ſondern es ſind hiſtoriſche Ge¬
ſtalten; was ſie vollbringen, ſind wirklich vollbrachte Thaten
griechiſcher Stämme, deren Ruhm auf ihre alten Heerfürſten
übertragen iſt. Die Mauern von Ilion und Mykenai zeugen
noch heute von der Herrſchermacht dieſer Fürſten, von ihrem
Reichthum und ihren auswärtigen Verbindungen. Wie lange
hielt man die lykiſchen Baumeiſter in Argolis für eitel Fa¬
belei, jetzt ſind wir im Stande, an den Burgmauern von Ar¬
golis die lykiſche Technik nachzuweiſen. Mit bewunderungs¬
würdiger Treue haben die Hellenen ihre Sage gehütet; ſie
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