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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der historische Sinn der Griechen.
die Anregungen, welche die Reiche des Morgenlandes dar¬
boten, die ein festes Centrum hatten, von denen aus über
Wohl und Wehe von Millionen entschieden wurde; die An¬
regungen, welche von Dynastien ausgehen, deren Interesse es
ist, eine Reichsgeschichte zu haben und die Heerzüge, Bünd¬
nisse, Eroberungen, Tributzahlungen in Jahrbüchern zu ver¬
zeichnen. Nur hier hat sich ein Archivwesen ausgebildet, das
in den griechischen Republiken sehr vernachlässigt blieb, und
eine genaue Chronologie. Wie bezeichnend ist dagegen für die
Griechen ihre ungenaue und nach unserm Maßstabe dilettan¬
tische Art der Zeitbestimmung! Da werden auch bei den sorg¬
fältigsten Berichterstattern die mit allen Einzelheiten erzählten
Hergänge nur nach Sommer und Winter eingetheilt; die Jahre
werden nicht von bestimmten Anfangspunkten gezählt oder nach
allgemein gültigen Normen bezeichnet, sondern nach Gemeinde¬
ämtern, die von Stadt zu Stadt verschieden sind, und nicht
bloß in der kunstmäßigen Geschichtschreibung, sondern in den
Urkunden selbst, vermißt man bis in späte Zeit eine deutliche
und zweckmäßige Datirung. Von den größeren Epochen aber
erhielt keine allgemeinere Geltung; jede einzelne wurde wieder
verschieden berechnet und Herodot mußte an die Dynastien
des Morgenlandes anknüpfen, um chronologische Haltpunkte
zu gewinnen. Erst als die Volksgeschichte der Griechen schon
abgelaufen war, kam die Olympiadenrechnung zu allgemeiner
Geltung, und alexandrinischer Gelehrsamkeit blieb es vorbe¬
halten, den ganzen Geschichtsstoff chronologisch zu ordnen.
Auch hier finden wir bei den Griechen eine Abneigung gegen
das Fachwerk, gegen alles mehr Aeußerliche und Mecha¬
nische; eine Einseitigkeit, deren nothwendige Folge die Un¬
vollständigkeit und Unordnung der nationalen Ueberlieferung
sein mußte.

Mit den staatlichen Zuständen, welche der Entwickelung
geschichtlicher Wissenschaft ungünstig waren, hängt auch die
Zerspaltung des Volks zusammen und die feindliche Spannung
zwischen Staaten und Stämmen, unter deren Einfluß eine
wahre Volksgeschichte nicht zu Stande kommen konnte. Und

Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
die Anregungen, welche die Reiche des Morgenlandes dar¬
boten, die ein feſtes Centrum hatten, von denen aus über
Wohl und Wehe von Millionen entſchieden wurde; die An¬
regungen, welche von Dynaſtien ausgehen, deren Intereſſe es
iſt, eine Reichsgeſchichte zu haben und die Heerzüge, Bünd¬
niſſe, Eroberungen, Tributzahlungen in Jahrbüchern zu ver¬
zeichnen. Nur hier hat ſich ein Archivweſen ausgebildet, das
in den griechiſchen Republiken ſehr vernachläſſigt blieb, und
eine genaue Chronologie. Wie bezeichnend iſt dagegen für die
Griechen ihre ungenaue und nach unſerm Maßſtabe dilettan¬
tiſche Art der Zeitbeſtimmung! Da werden auch bei den ſorg¬
fältigſten Berichterſtattern die mit allen Einzelheiten erzählten
Hergänge nur nach Sommer und Winter eingetheilt; die Jahre
werden nicht von beſtimmten Anfangspunkten gezählt oder nach
allgemein gültigen Normen bezeichnet, ſondern nach Gemeinde¬
ämtern, die von Stadt zu Stadt verſchieden ſind, und nicht
bloß in der kunſtmäßigen Geſchichtſchreibung, ſondern in den
Urkunden ſelbſt, vermißt man bis in ſpäte Zeit eine deutliche
und zweckmäßige Datirung. Von den größeren Epochen aber
erhielt keine allgemeinere Geltung; jede einzelne wurde wieder
verſchieden berechnet und Herodot mußte an die Dynaſtien
des Morgenlandes anknüpfen, um chronologiſche Haltpunkte
zu gewinnen. Erſt als die Volksgeſchichte der Griechen ſchon
abgelaufen war, kam die Olympiadenrechnung zu allgemeiner
Geltung, und alexandriniſcher Gelehrſamkeit blieb es vorbe¬
halten, den ganzen Geſchichtsſtoff chronologiſch zu ordnen.
Auch hier finden wir bei den Griechen eine Abneigung gegen
das Fachwerk, gegen alles mehr Aeußerliche und Mecha¬
niſche; eine Einſeitigkeit, deren nothwendige Folge die Un¬
vollſtändigkeit und Unordnung der nationalen Ueberlieferung
ſein mußte.

Mit den ſtaatlichen Zuſtänden, welche der Entwickelung
geſchichtlicher Wiſſenſchaft ungünſtig waren, hängt auch die
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[278/0294] Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. die Anregungen, welche die Reiche des Morgenlandes dar¬ boten, die ein feſtes Centrum hatten, von denen aus über Wohl und Wehe von Millionen entſchieden wurde; die An¬ regungen, welche von Dynaſtien ausgehen, deren Intereſſe es iſt, eine Reichsgeſchichte zu haben und die Heerzüge, Bünd¬ niſſe, Eroberungen, Tributzahlungen in Jahrbüchern zu ver¬ zeichnen. Nur hier hat ſich ein Archivweſen ausgebildet, das in den griechiſchen Republiken ſehr vernachläſſigt blieb, und eine genaue Chronologie. Wie bezeichnend iſt dagegen für die Griechen ihre ungenaue und nach unſerm Maßſtabe dilettan¬ tiſche Art der Zeitbeſtimmung! Da werden auch bei den ſorg¬ fältigſten Berichterſtattern die mit allen Einzelheiten erzählten Hergänge nur nach Sommer und Winter eingetheilt; die Jahre werden nicht von beſtimmten Anfangspunkten gezählt oder nach allgemein gültigen Normen bezeichnet, ſondern nach Gemeinde¬ ämtern, die von Stadt zu Stadt verſchieden ſind, und nicht bloß in der kunſtmäßigen Geſchichtſchreibung, ſondern in den Urkunden ſelbſt, vermißt man bis in ſpäte Zeit eine deutliche und zweckmäßige Datirung. Von den größeren Epochen aber erhielt keine allgemeinere Geltung; jede einzelne wurde wieder verſchieden berechnet und Herodot mußte an die Dynaſtien des Morgenlandes anknüpfen, um chronologiſche Haltpunkte zu gewinnen. Erſt als die Volksgeſchichte der Griechen ſchon abgelaufen war, kam die Olympiadenrechnung zu allgemeiner Geltung, und alexandriniſcher Gelehrſamkeit blieb es vorbe¬ halten, den ganzen Geſchichtsſtoff chronologiſch zu ordnen. Auch hier finden wir bei den Griechen eine Abneigung gegen das Fachwerk, gegen alles mehr Aeußerliche und Mecha¬ niſche; eine Einſeitigkeit, deren nothwendige Folge die Un¬ vollſtändigkeit und Unordnung der nationalen Ueberlieferung ſein mußte. Mit den ſtaatlichen Zuſtänden, welche der Entwickelung geſchichtlicher Wiſſenſchaft ungünſtig waren, hängt auch die Zerſpaltung des Volks zuſammen und die feindliche Spannung zwiſchen Staaten und Stämmen, unter deren Einfluß eine wahre Volksgeſchichte nicht zu Stande kommen konnte. Und

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/294>, abgerufen am 23.11.2024.