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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der historische Sinn der Griechen.
Um ein Gegenbild vor Augen zu haben, denke man an Aegyp¬
ten, das abgeschlossene, selbstgenugsame Flußland, das in seinen
von der Natur vorgezeichneten Lebensgewohnheiten Jahr¬
tausende lang verharrte. Seit König Menes, sagt Herodot,
habe sich in Aegypten nichts verändert; also mit dem Anfange
der Geschichte hört die eigentliche Geschichte auf, welche doch
ohne eine lebhafte Culturbewegung nicht zu deuten ist. Dort
hatte man Muße, Alles zu registriren, Denkmäler und Geräthe
mit Schrift zu überkleiden, und schon aus der Langenweile,
die, wenn Herodot Recht hat, im Nillande geherrscht haben
muß, mag man sich die Schreibseligkeit Aegyptens erklären
im Gegensatze zu der Abneigung der älteren Hellenen gegen
umfassenderen Schriftgebrauch.

Es liegt also nicht bloß an dem Volkscharakter, sondern
auch an den geschichtlichen Verhältnissen, wenn die Griechen
in der Ausbildung ihres historischen Sinns hinter anderen
Völkern zurück geblieben sind. Wo Geschichtskunde gedeihen
soll, bedarf es eines Standpunkts, von dem man die mensch¬
lichen Dinge überblicken kann. Solchen Ueberblick hatten im
älteren Griechenland nur die Priesterschaften, welche an den
Hauptplätzen des nationalen Gottesdienstes ihren Sitz hatten.
Hier allein hatte man einen freieren Horizont, hier über¬
sah man Mutterland und Colonien; von hier leitete man,
so lange es möglich war, die inneren Entwickelungen so wie
die Ansiedelungen im Auslande, hier zeichnete man die Be¬
gebenheiten der griechischen Welt auf. Aber die Aufzeichnung
erfolgte von Anfang an in priesterlichem Interesse; sie sollte
dazu dienen, das Ansehen der gottesdienstlichen Anstalten zu
stützen, indem sie darauf ausging, in den Wendungen mensch¬
licher Schicksale die genaue Erfüllung göttlicher Wahrsprüche
nachzuweisen. Die Geschichte sollte eine Rechtfertigung der
Orakel sein, ein Antrieb für Fürsten, Gemeinden und Privat¬
leute, sich vor allen Unternehmungen in Delphi Rath zu holen,
und wie lange diese Tendenz die Geschichtschreibung beherrscht
hat, zeigt Herodot am deutlichsten.

Für eigentliche Staatengeschichte fehlten in Griechenland

Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
Um ein Gegenbild vor Augen zu haben, denke man an Aegyp¬
ten, das abgeſchloſſene, ſelbſtgenugſame Flußland, das in ſeinen
von der Natur vorgezeichneten Lebensgewohnheiten Jahr¬
tauſende lang verharrte. Seit König Menes, ſagt Herodot,
habe ſich in Aegypten nichts verändert; alſo mit dem Anfange
der Geſchichte hört die eigentliche Geſchichte auf, welche doch
ohne eine lebhafte Culturbewegung nicht zu deuten iſt. Dort
hatte man Muße, Alles zu regiſtriren, Denkmäler und Geräthe
mit Schrift zu überkleiden, und ſchon aus der Langenweile,
die, wenn Herodot Recht hat, im Nillande geherrſcht haben
muß, mag man ſich die Schreibſeligkeit Aegyptens erklären
im Gegenſatze zu der Abneigung der älteren Hellenen gegen
umfaſſenderen Schriftgebrauch.

Es liegt alſo nicht bloß an dem Volkscharakter, ſondern
auch an den geſchichtlichen Verhältniſſen, wenn die Griechen
in der Ausbildung ihres hiſtoriſchen Sinns hinter anderen
Völkern zurück geblieben ſind. Wo Geſchichtskunde gedeihen
ſoll, bedarf es eines Standpunkts, von dem man die menſch¬
lichen Dinge überblicken kann. Solchen Ueberblick hatten im
älteren Griechenland nur die Prieſterſchaften, welche an den
Hauptplätzen des nationalen Gottesdienſtes ihren Sitz hatten.
Hier allein hatte man einen freieren Horizont, hier über¬
ſah man Mutterland und Colonien; von hier leitete man,
ſo lange es möglich war, die inneren Entwickelungen ſo wie
die Anſiedelungen im Auslande, hier zeichnete man die Be¬
gebenheiten der griechiſchen Welt auf. Aber die Aufzeichnung
erfolgte von Anfang an in prieſterlichem Intereſſe; ſie ſollte
dazu dienen, das Anſehen der gottesdienſtlichen Anſtalten zu
ſtützen, indem ſie darauf ausging, in den Wendungen menſch¬
licher Schickſale die genaue Erfüllung göttlicher Wahrſprüche
nachzuweiſen. Die Geſchichte ſollte eine Rechtfertigung der
Orakel ſein, ein Antrieb für Fürſten, Gemeinden und Privat¬
leute, ſich vor allen Unternehmungen in Delphi Rath zu holen,
und wie lange dieſe Tendenz die Geſchichtſchreibung beherrſcht
hat, zeigt Herodot am deutlichſten.

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[277/0293] Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. Um ein Gegenbild vor Augen zu haben, denke man an Aegyp¬ ten, das abgeſchloſſene, ſelbſtgenugſame Flußland, das in ſeinen von der Natur vorgezeichneten Lebensgewohnheiten Jahr¬ tauſende lang verharrte. Seit König Menes, ſagt Herodot, habe ſich in Aegypten nichts verändert; alſo mit dem Anfange der Geſchichte hört die eigentliche Geſchichte auf, welche doch ohne eine lebhafte Culturbewegung nicht zu deuten iſt. Dort hatte man Muße, Alles zu regiſtriren, Denkmäler und Geräthe mit Schrift zu überkleiden, und ſchon aus der Langenweile, die, wenn Herodot Recht hat, im Nillande geherrſcht haben muß, mag man ſich die Schreibſeligkeit Aegyptens erklären im Gegenſatze zu der Abneigung der älteren Hellenen gegen umfaſſenderen Schriftgebrauch. Es liegt alſo nicht bloß an dem Volkscharakter, ſondern auch an den geſchichtlichen Verhältniſſen, wenn die Griechen in der Ausbildung ihres hiſtoriſchen Sinns hinter anderen Völkern zurück geblieben ſind. Wo Geſchichtskunde gedeihen ſoll, bedarf es eines Standpunkts, von dem man die menſch¬ lichen Dinge überblicken kann. Solchen Ueberblick hatten im älteren Griechenland nur die Prieſterſchaften, welche an den Hauptplätzen des nationalen Gottesdienſtes ihren Sitz hatten. Hier allein hatte man einen freieren Horizont, hier über¬ ſah man Mutterland und Colonien; von hier leitete man, ſo lange es möglich war, die inneren Entwickelungen ſo wie die Anſiedelungen im Auslande, hier zeichnete man die Be¬ gebenheiten der griechiſchen Welt auf. Aber die Aufzeichnung erfolgte von Anfang an in prieſterlichem Intereſſe; ſie ſollte dazu dienen, das Anſehen der gottesdienſtlichen Anſtalten zu ſtützen, indem ſie darauf ausging, in den Wendungen menſch¬ licher Schickſale die genaue Erfüllung göttlicher Wahrſprüche nachzuweiſen. Die Geſchichte ſollte eine Rechtfertigung der Orakel ſein, ein Antrieb für Fürſten, Gemeinden und Privat¬ leute, ſich vor allen Unternehmungen in Delphi Rath zu holen, und wie lange dieſe Tendenz die Geſchichtſchreibung beherrſcht hat, zeigt Herodot am deutlichſten. Für eigentliche Staatengeſchichte fehlten in Griechenland

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/293>, abgerufen am 23.11.2024.