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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der historische Sinn der Griechen.
dachte, so wollte man sich auch die großen Ereignisse der Ge¬
schichte, die Gründungen von Staaten und Staatsordnungen,
die Stiftungen heiliger Weihen, die Einführung von Künsten,
welche ein hochgeschätzter Volksbesitz geworden waren, nicht
als etwas allmählich und unter mannigfaltigen Einflüssen zu
Stande Gekommenes denken, sondern als die freie That eines
Mannes, als die Gabe eines von den Göttern begnadigten
Menschen. Wo kunstfleißige Dädaliden ihre Werkstätten hatten,
da gab es auch einen Dädalos, der zuerst und auf einmal
den formlosen Bildklötzen die Glieder gelöst und athmendes
Leben eingehaucht haben sollte. Wo Homeriden sangen, mußten
sie auch einen Homeros haben und der Sitz ihrer Schule
wurde der Ort seiner Geburt. Nun konnten zwar diejenigen,
welche diesen Ueberlieferungen ruhig nachdachten, schwerlich
verkennen, daß der Stammvater der vielen Homeridenge¬
schlechter, der Sohn des Flußgottes, eben so wenig wie die
anderen heroischen Stammväter von Geschlechtern und Völkern,
Pelasgos und Hellen, Kadmos und Dädalos, ein Wesen ihres
Gleichen sei, aber es war nicht Sitte anders von ihnen zu
sprechen und zu denken; man wollte sich von der naiven Volks¬
anschauung nicht trennen, man scheute sich, ihr mit vornehmem
Besserwissen gegenüber zu treten. Man hatte kein Gefallen
daran, das, was als ein Ganzes vorlag, in seine Elemente
aufzulösen; man wollte Einem, und zwar einem bestimmten
und bekannten Manne, Alles danken und stellte sich ihn so
leibhaftig vor, daß auch sein äußeres Bild in festen Zügen,
wie ein nach dem Leben gemachtes, dem ganzen Volke gegen¬
wärtig war.

Dies Festhalten an der Persönlichkeit hängt mit der ganzen
Anschauungsweise der Hellenen zusammen; sie führten Athen
mit seiner Demokratie auf Theseus zurück, sie nannten lykur¬
gisch und solonisch, was ohne Aufwand von Studium und
Scharfsinn als einer viel späteren Zeit angehörig sich erkennen
ließ. Man stellte in einzelnen Personen, wie in Solon und
Kroisos, die verschiedenen Culturen der alten Welt einander
gegenüber. Man ließ diejenigen, welche in geistigem Zusammen¬

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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
dachte, ſo wollte man ſich auch die großen Ereigniſſe der Ge¬
ſchichte, die Gründungen von Staaten und Staatsordnungen,
die Stiftungen heiliger Weihen, die Einführung von Künſten,
welche ein hochgeſchätzter Volksbeſitz geworden waren, nicht
als etwas allmählich und unter mannigfaltigen Einflüſſen zu
Stande Gekommenes denken, ſondern als die freie That eines
Mannes, als die Gabe eines von den Göttern begnadigten
Menſchen. Wo kunſtfleißige Dädaliden ihre Werkſtätten hatten,
da gab es auch einen Dädalos, der zuerſt und auf einmal
den formloſen Bildklötzen die Glieder gelöſt und athmendes
Leben eingehaucht haben ſollte. Wo Homeriden ſangen, mußten
ſie auch einen Homeros haben und der Sitz ihrer Schule
wurde der Ort ſeiner Geburt. Nun konnten zwar diejenigen,
welche dieſen Ueberlieferungen ruhig nachdachten, ſchwerlich
verkennen, daß der Stammvater der vielen Homeridenge¬
ſchlechter, der Sohn des Flußgottes, eben ſo wenig wie die
anderen heroiſchen Stammväter von Geſchlechtern und Völkern,
Pelasgos und Hellen, Kadmos und Dädalos, ein Weſen ihres
Gleichen ſei, aber es war nicht Sitte anders von ihnen zu
ſprechen und zu denken; man wollte ſich von der naiven Volks¬
anſchauung nicht trennen, man ſcheute ſich, ihr mit vornehmem
Beſſerwiſſen gegenüber zu treten. Man hatte kein Gefallen
daran, das, was als ein Ganzes vorlag, in ſeine Elemente
aufzulöſen; man wollte Einem, und zwar einem beſtimmten
und bekannten Manne, Alles danken und ſtellte ſich ihn ſo
leibhaftig vor, daß auch ſein äußeres Bild in feſten Zügen,
wie ein nach dem Leben gemachtes, dem ganzen Volke gegen¬
wärtig war.

Dies Feſthalten an der Perſönlichkeit hängt mit der ganzen
Anſchauungsweiſe der Hellenen zuſammen; ſie führten Athen
mit ſeiner Demokratie auf Theſeus zurück, ſie nannten lykur¬
giſch und ſoloniſch, was ohne Aufwand von Studium und
Scharfſinn als einer viel ſpäteren Zeit angehörig ſich erkennen
ließ. Man ſtellte in einzelnen Perſonen, wie in Solon und
Kroiſos, die verſchiedenen Culturen der alten Welt einander
gegenüber. Man ließ diejenigen, welche in geiſtigem Zuſammen¬

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[275/0291] Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. dachte, ſo wollte man ſich auch die großen Ereigniſſe der Ge¬ ſchichte, die Gründungen von Staaten und Staatsordnungen, die Stiftungen heiliger Weihen, die Einführung von Künſten, welche ein hochgeſchätzter Volksbeſitz geworden waren, nicht als etwas allmählich und unter mannigfaltigen Einflüſſen zu Stande Gekommenes denken, ſondern als die freie That eines Mannes, als die Gabe eines von den Göttern begnadigten Menſchen. Wo kunſtfleißige Dädaliden ihre Werkſtätten hatten, da gab es auch einen Dädalos, der zuerſt und auf einmal den formloſen Bildklötzen die Glieder gelöſt und athmendes Leben eingehaucht haben ſollte. Wo Homeriden ſangen, mußten ſie auch einen Homeros haben und der Sitz ihrer Schule wurde der Ort ſeiner Geburt. Nun konnten zwar diejenigen, welche dieſen Ueberlieferungen ruhig nachdachten, ſchwerlich verkennen, daß der Stammvater der vielen Homeridenge¬ ſchlechter, der Sohn des Flußgottes, eben ſo wenig wie die anderen heroiſchen Stammväter von Geſchlechtern und Völkern, Pelasgos und Hellen, Kadmos und Dädalos, ein Weſen ihres Gleichen ſei, aber es war nicht Sitte anders von ihnen zu ſprechen und zu denken; man wollte ſich von der naiven Volks¬ anſchauung nicht trennen, man ſcheute ſich, ihr mit vornehmem Beſſerwiſſen gegenüber zu treten. Man hatte kein Gefallen daran, das, was als ein Ganzes vorlag, in ſeine Elemente aufzulöſen; man wollte Einem, und zwar einem beſtimmten und bekannten Manne, Alles danken und ſtellte ſich ihn ſo leibhaftig vor, daß auch ſein äußeres Bild in feſten Zügen, wie ein nach dem Leben gemachtes, dem ganzen Volke gegen¬ wärtig war. Dies Feſthalten an der Perſönlichkeit hängt mit der ganzen Anſchauungsweiſe der Hellenen zuſammen; ſie führten Athen mit ſeiner Demokratie auf Theſeus zurück, ſie nannten lykur¬ giſch und ſoloniſch, was ohne Aufwand von Studium und Scharfſinn als einer viel ſpäteren Zeit angehörig ſich erkennen ließ. Man ſtellte in einzelnen Perſonen, wie in Solon und Kroiſos, die verſchiedenen Culturen der alten Welt einander gegenüber. Man ließ diejenigen, welche in geiſtigem Zuſammen¬ 18*

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/291>, abgerufen am 23.11.2024.