Weisen mit der Gottheit stehen, und die Weihe, welche auf ihren Personen ruht. Mißwachs und Krankheit tritt ein, wenn fremde Meister, die zu Ehren der Gottheit arbeiten, durch den Neid einheimischer Fachgenossen aus einem Lande ausgetrieben werden. Mit Wunderhänden retten die Götter den frommen Sänger aus drohender Gefahr oder rächen seinen Tod an dem sichern Frevler. Ein gottgesandter Traum hindert den feind¬ lichen Feldherrn das Leichenbegängniß des Sophokles zu stören. Sokrates und Platon werden am Geburtsfeste der Gottheiten geboren, mit welchen ihre geistige Thätigkeit in besonderem Zusammenhange zu stehen schien.
So zieht sich die Sagenbildung, Menschliches und Gött¬ liches durch unzählige Fäden verbindend, tief in die Geschichte hinein, und wir können sagen, daß die poetische Thätigkeit, wie sie bei andern Nationen in aufgeregten Zeiten zu erwachen pflegt, bei den Hellenen etwas Bleibendes war, so lange ihr Volksgeist lebendig war. Wuchernden Schlingpflanzen gleich schließen sich sinnreiche Legenden an alle Tempel, Statuen und Weihgeschenke an. Das Nemesisbild in Rhamnus sollte aus einem Marmorblocke gemeißelt sein, welchen die Perser in ihrem Uebermuthe heran geschleppt hätten, um ein Denkmal ihrer Besiegung von Athen daraus zu machen, und das uralte Blitzmal im Tempel von Olympia deutete man als ein Wahr¬ zeichen, welches Zeus dem Phidias gegeben habe, um ihm seine Zufriedenheit mit dem vollendeten Tempelbilde auszu¬ drücken. So bildete sich überall ein Durcheinander von Wahr¬ heit und Dichtung, an dem man seine Freude haben kann, wenn man die fröhliche Triebkraft des Volksbewußtseins ins Auge faßt, welches wie ein üppiger Boden Saat und Wild¬ kraut emporschießen läßt, während es für den Historiker eine peinlich schwierige Aufgabe ist, Wirkliches und Erdichtetes zu scheiden. In manchen Fällen sind sichere Kennzeichen vor¬ handen; man sieht, daß gewisse Erzählungen nur gemacht sind, um einen Gedanken zum Ausdrucke zu bringen oder einen be¬ stehenden Gebrauch zu erklären; das Wunder verräth die Spur der dichtenden Phantasie oder die Wiederkehr derselben Züge
Curtius, Alterthum. 18
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
Weiſen mit der Gottheit ſtehen, und die Weihe, welche auf ihren Perſonen ruht. Mißwachs und Krankheit tritt ein, wenn fremde Meiſter, die zu Ehren der Gottheit arbeiten, durch den Neid einheimiſcher Fachgenoſſen aus einem Lande ausgetrieben werden. Mit Wunderhänden retten die Götter den frommen Sänger aus drohender Gefahr oder rächen ſeinen Tod an dem ſichern Frevler. Ein gottgeſandter Traum hindert den feind¬ lichen Feldherrn das Leichenbegängniß des Sophokles zu ſtören. Sokrates und Platon werden am Geburtsfeſte der Gottheiten geboren, mit welchen ihre geiſtige Thätigkeit in beſonderem Zuſammenhange zu ſtehen ſchien.
So zieht ſich die Sagenbildung, Menſchliches und Gött¬ liches durch unzählige Fäden verbindend, tief in die Geſchichte hinein, und wir können ſagen, daß die poetiſche Thätigkeit, wie ſie bei andern Nationen in aufgeregten Zeiten zu erwachen pflegt, bei den Hellenen etwas Bleibendes war, ſo lange ihr Volksgeiſt lebendig war. Wuchernden Schlingpflanzen gleich ſchließen ſich ſinnreiche Legenden an alle Tempel, Statuen und Weihgeſchenke an. Das Nemeſisbild in Rhamnus ſollte aus einem Marmorblocke gemeißelt ſein, welchen die Perſer in ihrem Uebermuthe heran geſchleppt hätten, um ein Denkmal ihrer Beſiegung von Athen daraus zu machen, und das uralte Blitzmal im Tempel von Olympia deutete man als ein Wahr¬ zeichen, welches Zeus dem Phidias gegeben habe, um ihm ſeine Zufriedenheit mit dem vollendeten Tempelbilde auszu¬ drücken. So bildete ſich überall ein Durcheinander von Wahr¬ heit und Dichtung, an dem man ſeine Freude haben kann, wenn man die fröhliche Triebkraft des Volksbewußtſeins ins Auge faßt, welches wie ein üppiger Boden Saat und Wild¬ kraut emporſchießen läßt, während es für den Hiſtoriker eine peinlich ſchwierige Aufgabe iſt, Wirkliches und Erdichtetes zu ſcheiden. In manchen Fällen ſind ſichere Kennzeichen vor¬ handen; man ſieht, daß gewiſſe Erzählungen nur gemacht ſind, um einen Gedanken zum Ausdrucke zu bringen oder einen be¬ ſtehenden Gebrauch zu erklären; das Wunder verräth die Spur der dichtenden Phantaſie oder die Wiederkehr derſelben Züge
Curtius, Alterthum. 18
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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
Weiſen mit der Gottheit ſtehen, und die Weihe, welche auf
ihren Perſonen ruht. Mißwachs und Krankheit tritt ein, wenn
fremde Meiſter, die zu Ehren der Gottheit arbeiten, durch den
Neid einheimiſcher Fachgenoſſen aus einem Lande ausgetrieben
werden. Mit Wunderhänden retten die Götter den frommen
Sänger aus drohender Gefahr oder rächen ſeinen Tod an dem
ſichern Frevler. Ein gottgeſandter Traum hindert den feind¬
lichen Feldherrn das Leichenbegängniß des Sophokles zu ſtören.
Sokrates und Platon werden am Geburtsfeſte der Gottheiten
geboren, mit welchen ihre geiſtige Thätigkeit in beſonderem
Zuſammenhange zu ſtehen ſchien.
So zieht ſich die Sagenbildung, Menſchliches und Gött¬
liches durch unzählige Fäden verbindend, tief in die Geſchichte
hinein, und wir können ſagen, daß die poetiſche Thätigkeit,
wie ſie bei andern Nationen in aufgeregten Zeiten zu erwachen
pflegt, bei den Hellenen etwas Bleibendes war, ſo lange ihr
Volksgeiſt lebendig war. Wuchernden Schlingpflanzen gleich
ſchließen ſich ſinnreiche Legenden an alle Tempel, Statuen und
Weihgeſchenke an. Das Nemeſisbild in Rhamnus ſollte aus
einem Marmorblocke gemeißelt ſein, welchen die Perſer in
ihrem Uebermuthe heran geſchleppt hätten, um ein Denkmal
ihrer Beſiegung von Athen daraus zu machen, und das uralte
Blitzmal im Tempel von Olympia deutete man als ein Wahr¬
zeichen, welches Zeus dem Phidias gegeben habe, um ihm
ſeine Zufriedenheit mit dem vollendeten Tempelbilde auszu¬
drücken. So bildete ſich überall ein Durcheinander von Wahr¬
heit und Dichtung, an dem man ſeine Freude haben kann,
wenn man die fröhliche Triebkraft des Volksbewußtſeins ins
Auge faßt, welches wie ein üppiger Boden Saat und Wild¬
kraut emporſchießen läßt, während es für den Hiſtoriker eine
peinlich ſchwierige Aufgabe iſt, Wirkliches und Erdichtetes zu
ſcheiden. In manchen Fällen ſind ſichere Kennzeichen vor¬
handen; man ſieht, daß gewiſſe Erzählungen nur gemacht ſind,
um einen Gedanken zum Ausdrucke zu bringen oder einen be¬
ſtehenden Gebrauch zu erklären; das Wunder verräth die Spur
der dichtenden Phantaſie oder die Wiederkehr derſelben Züge
Curtius, Alterthum. 18
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/289>, abgerufen am 22.07.2024.
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