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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der historische Sinn der Griechen.
digkeit zusammenhängen, sie sollte in Darstellung allgemeiner
Wahrheiten mit der Poesie wetteifern. Mit feinem Sinne
folgte man den Spuren der göttlichen Gerechtigkeit, die der
Menschengeschichte eingeprägt waren; an der Masse der That¬
sachen ging man gleichgültig vorüber und wendete ein volles
Interesse nur den Begebenheiten zu, in welchen man fand,
was man suchte, einleuchtende Rathschlüsse der weltregierenden
Götter, welche den Gottesfürchtigen nicht fallen lassen und die
Ungerechtigkeit an Völkern, Städten und Familien strafen.
Wer wird diese ideale Auffassung unbedingt verwerfen? Ihr
einseitiges Vorherrschen mußte aber der Wissenschaft schaden;
die Ueberlieferung mußte eine lückenhafte bleiben und unwill¬
kürlich mußte man dahin kommen, die Ueberlieferung den
ethischen Gesichtspunkten anzubequemen. Sie wurden auf Kosten
des wirklichen Sachverhalts zur Geltung gebracht; man legte
sich die Thatsachen so zurecht, daß sie an geistigem Inhalte
reicher und bedeutungsvoller wurden.

So sahen die Griechen in den gleichzeitigen Niederlagen
der Barbaren in Hellas und Sicilien ein Gericht der Götter
über frevelhafte Eroberungsgelüste. Damit nun das Plan¬
mäßige der Vorsehung noch augenscheinlicher werde, mußten
die Schlachten bei Himera und Salamis auf einen Tag fallen;
eben so mußten die Hellenen in Plataiai und Mykale an dem¬
selben Tage gestritten haben und die in Asien kämpfenden
durch wunderbare Vermittelung inne werden, daß ihre Waffen¬
brüder in Böotien gleichzeitig für dieselben Götter und dasselbe
Vaterland kämpften.

Man gewöhnte sich so sehr, in der Geschichte den Aus¬
druck gewisser Ideen zu finden, daß man auch wiederum die
Ideen in Geschichte umsetzte und aus ihnen Geschichte machte,
nicht um sich und Andere zu täuschen, sondern um die Wahr¬
heiten eindringlicher zu machen, als wenn sie in Lehrform
mitgetheilt würden. So verfuhr man namentlich mit gewissen
Lieblingsgedanken des Volks, denen wir daher in den ver¬
schiedensten Formen wieder begegnen. Ein solches Lieblings¬
thema ist die enge Verbindung, in welcher die Künstler und

Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
digkeit zuſammenhängen, ſie ſollte in Darſtellung allgemeiner
Wahrheiten mit der Poeſie wetteifern. Mit feinem Sinne
folgte man den Spuren der göttlichen Gerechtigkeit, die der
Menſchengeſchichte eingeprägt waren; an der Maſſe der That¬
ſachen ging man gleichgültig vorüber und wendete ein volles
Intereſſe nur den Begebenheiten zu, in welchen man fand,
was man ſuchte, einleuchtende Rathſchlüſſe der weltregierenden
Götter, welche den Gottesfürchtigen nicht fallen laſſen und die
Ungerechtigkeit an Völkern, Städten und Familien ſtrafen.
Wer wird dieſe ideale Auffaſſung unbedingt verwerfen? Ihr
einſeitiges Vorherrſchen mußte aber der Wiſſenſchaft ſchaden;
die Ueberlieferung mußte eine lückenhafte bleiben und unwill¬
kürlich mußte man dahin kommen, die Ueberlieferung den
ethiſchen Geſichtspunkten anzubequemen. Sie wurden auf Koſten
des wirklichen Sachverhalts zur Geltung gebracht; man legte
ſich die Thatſachen ſo zurecht, daß ſie an geiſtigem Inhalte
reicher und bedeutungsvoller wurden.

So ſahen die Griechen in den gleichzeitigen Niederlagen
der Barbaren in Hellas und Sicilien ein Gericht der Götter
über frevelhafte Eroberungsgelüſte. Damit nun das Plan¬
mäßige der Vorſehung noch augenſcheinlicher werde, mußten
die Schlachten bei Himera und Salamis auf einen Tag fallen;
eben ſo mußten die Hellenen in Plataiai und Mykale an dem¬
ſelben Tage geſtritten haben und die in Aſien kämpfenden
durch wunderbare Vermittelung inne werden, daß ihre Waffen¬
brüder in Böotien gleichzeitig für dieſelben Götter und daſſelbe
Vaterland kämpften.

Man gewöhnte ſich ſo ſehr, in der Geſchichte den Aus¬
druck gewiſſer Ideen zu finden, daß man auch wiederum die
Ideen in Geſchichte umſetzte und aus ihnen Geſchichte machte,
nicht um ſich und Andere zu täuſchen, ſondern um die Wahr¬
heiten eindringlicher zu machen, als wenn ſie in Lehrform
mitgetheilt würden. So verfuhr man namentlich mit gewiſſen
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[272/0288] Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. digkeit zuſammenhängen, ſie ſollte in Darſtellung allgemeiner Wahrheiten mit der Poeſie wetteifern. Mit feinem Sinne folgte man den Spuren der göttlichen Gerechtigkeit, die der Menſchengeſchichte eingeprägt waren; an der Maſſe der That¬ ſachen ging man gleichgültig vorüber und wendete ein volles Intereſſe nur den Begebenheiten zu, in welchen man fand, was man ſuchte, einleuchtende Rathſchlüſſe der weltregierenden Götter, welche den Gottesfürchtigen nicht fallen laſſen und die Ungerechtigkeit an Völkern, Städten und Familien ſtrafen. Wer wird dieſe ideale Auffaſſung unbedingt verwerfen? Ihr einſeitiges Vorherrſchen mußte aber der Wiſſenſchaft ſchaden; die Ueberlieferung mußte eine lückenhafte bleiben und unwill¬ kürlich mußte man dahin kommen, die Ueberlieferung den ethiſchen Geſichtspunkten anzubequemen. Sie wurden auf Koſten des wirklichen Sachverhalts zur Geltung gebracht; man legte ſich die Thatſachen ſo zurecht, daß ſie an geiſtigem Inhalte reicher und bedeutungsvoller wurden. So ſahen die Griechen in den gleichzeitigen Niederlagen der Barbaren in Hellas und Sicilien ein Gericht der Götter über frevelhafte Eroberungsgelüſte. Damit nun das Plan¬ mäßige der Vorſehung noch augenſcheinlicher werde, mußten die Schlachten bei Himera und Salamis auf einen Tag fallen; eben ſo mußten die Hellenen in Plataiai und Mykale an dem¬ ſelben Tage geſtritten haben und die in Aſien kämpfenden durch wunderbare Vermittelung inne werden, daß ihre Waffen¬ brüder in Böotien gleichzeitig für dieſelben Götter und daſſelbe Vaterland kämpften. Man gewöhnte ſich ſo ſehr, in der Geſchichte den Aus¬ druck gewiſſer Ideen zu finden, daß man auch wiederum die Ideen in Geſchichte umſetzte und aus ihnen Geſchichte machte, nicht um ſich und Andere zu täuſchen, ſondern um die Wahr¬ heiten eindringlicher zu machen, als wenn ſie in Lehrform mitgetheilt würden. So verfuhr man namentlich mit gewiſſen Lieblingsgedanken des Volks, denen wir daher in den ver¬ ſchiedenſten Formen wieder begegnen. Ein ſolches Lieblings¬ thema iſt die enge Verbindung, in welcher die Künſtler und

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/288>, abgerufen am 23.11.2024.