lässigkeit so wenig zuerkannt, daß schon im Alterthume arg gescholten worden ist auf das Lügenvolk der Griechen, welches Einem Alles zu glauben zumuthe oder, höflicher ausgedrückt, eine solche Mischung von Dichtung und Wahrheit vorbringe, daß es schwer sei den Kern von Wahrheit herauszuschälen. Unter diesen Umständen halten wir es für eine Aufgabe von allgemeinem culturgeschichtlichen Interesse, wenn wir den historischen Sinn der Griechen in das Auge fassen, um zu erkennen, wie weit die Vorwürfe begründet sind, welche ihnen in dieser Beziehung gemacht werden.
Gewisse Schwächen auf dem Gebiete geschichtlicher Wissen¬ schaft sind in der Naturanlage der Griechen tief begründet und mit den edelsten Kräften ihres Volksgeistes in engem Zu¬ sammenhange. Ich meine besonders die Lebhaftigkeit des griechischen Geistes und den Trieb nach selbständiger Thä¬ tigkeit, welcher sich an einem bloßen Einsammeln von That¬ sachen nicht genügen ließ, wie es doch zur Begründung sicherer Erfahrungskenntnisse nothwendig ist. Wie die Griechen in Betrachtung der natürlichen Erscheinungen verfuhren, indem sie ohne genügende Durchforschung des Gegebenen gleich den letzten Gründen der Dinge nachspürten und die Entwickelung einer soliden Naturkenntniß dadurch hemmten, daß sie voreilig zur Naturphilosophie übergingen, so machten sie es auch in der Geschichte. Auch hier zeigen sie denselben Mangel an nüchterner Methode und besonnener Zurückhaltung. Sie hatten von Natur eine Abneigung gegen alles Regellose und Massen¬ hafte; sie wollten überall ordnen und gestalten, und so geschah es, daß gerade ihr Bedürfniß nach Gesetz und Regel sie zu willkürlicher Behandlung des Stoffs verleitete. Anstatt die Gränzen erfahrungsmäßiger Kenntniß festzustellen und vor¬ sichtig einzuhalten, gingen sie keck darüber hinaus und con¬ struirten unerforschte Zeit- und Welträume nach Linien und Zahlen, welche keine andere Begründung hatten, als daß sie dem Streben nach Uebersichtlichkeit und Regelmäßigkeit ent¬ sprachen. So theilt Hekataios die Königsreihen von Assur in zwei Dynastieen von gleicher Länge; so mußte einer ge¬
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
läſſigkeit ſo wenig zuerkannt, daß ſchon im Alterthume arg geſcholten worden iſt auf das Lügenvolk der Griechen, welches Einem Alles zu glauben zumuthe oder, höflicher ausgedrückt, eine ſolche Miſchung von Dichtung und Wahrheit vorbringe, daß es ſchwer ſei den Kern von Wahrheit herauszuſchälen. Unter dieſen Umſtänden halten wir es für eine Aufgabe von allgemeinem culturgeſchichtlichen Intereſſe, wenn wir den hiſtoriſchen Sinn der Griechen in das Auge faſſen, um zu erkennen, wie weit die Vorwürfe begründet ſind, welche ihnen in dieſer Beziehung gemacht werden.
Gewiſſe Schwächen auf dem Gebiete geſchichtlicher Wiſſen¬ ſchaft ſind in der Naturanlage der Griechen tief begründet und mit den edelſten Kräften ihres Volksgeiſtes in engem Zu¬ ſammenhange. Ich meine beſonders die Lebhaftigkeit des griechiſchen Geiſtes und den Trieb nach ſelbſtändiger Thä¬ tigkeit, welcher ſich an einem bloßen Einſammeln von That¬ ſachen nicht genügen ließ, wie es doch zur Begründung ſicherer Erfahrungskenntniſſe nothwendig iſt. Wie die Griechen in Betrachtung der natürlichen Erſcheinungen verfuhren, indem ſie ohne genügende Durchforſchung des Gegebenen gleich den letzten Gründen der Dinge nachſpürten und die Entwickelung einer ſoliden Naturkenntniß dadurch hemmten, daß ſie voreilig zur Naturphiloſophie übergingen, ſo machten ſie es auch in der Geſchichte. Auch hier zeigen ſie denſelben Mangel an nüchterner Methode und beſonnener Zurückhaltung. Sie hatten von Natur eine Abneigung gegen alles Regelloſe und Maſſen¬ hafte; ſie wollten überall ordnen und geſtalten, und ſo geſchah es, daß gerade ihr Bedürfniß nach Geſetz und Regel ſie zu willkürlicher Behandlung des Stoffs verleitete. Anſtatt die Gränzen erfahrungsmäßiger Kenntniß feſtzuſtellen und vor¬ ſichtig einzuhalten, gingen ſie keck darüber hinaus und con¬ ſtruirten unerforſchte Zeit- und Welträume nach Linien und Zahlen, welche keine andere Begründung hatten, als daß ſie dem Streben nach Ueberſichtlichkeit und Regelmäßigkeit ent¬ ſprachen. So theilt Hekataios die Königsreihen von Aſſur in zwei Dynaſtieen von gleicher Länge; ſo mußte einer ge¬
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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
läſſigkeit ſo wenig zuerkannt, daß ſchon im Alterthume arg
geſcholten worden iſt auf das Lügenvolk der Griechen, welches
Einem Alles zu glauben zumuthe oder, höflicher ausgedrückt,
eine ſolche Miſchung von Dichtung und Wahrheit vorbringe,
daß es ſchwer ſei den Kern von Wahrheit herauszuſchälen.
Unter dieſen Umſtänden halten wir es für eine Aufgabe von
allgemeinem culturgeſchichtlichen Intereſſe, wenn wir den
hiſtoriſchen Sinn der Griechen in das Auge faſſen, um zu
erkennen, wie weit die Vorwürfe begründet ſind, welche ihnen
in dieſer Beziehung gemacht werden.
Gewiſſe Schwächen auf dem Gebiete geſchichtlicher Wiſſen¬
ſchaft ſind in der Naturanlage der Griechen tief begründet
und mit den edelſten Kräften ihres Volksgeiſtes in engem Zu¬
ſammenhange. Ich meine beſonders die Lebhaftigkeit des
griechiſchen Geiſtes und den Trieb nach ſelbſtändiger Thä¬
tigkeit, welcher ſich an einem bloßen Einſammeln von That¬
ſachen nicht genügen ließ, wie es doch zur Begründung ſicherer
Erfahrungskenntniſſe nothwendig iſt. Wie die Griechen in
Betrachtung der natürlichen Erſcheinungen verfuhren, indem
ſie ohne genügende Durchforſchung des Gegebenen gleich den
letzten Gründen der Dinge nachſpürten und die Entwickelung
einer ſoliden Naturkenntniß dadurch hemmten, daß ſie voreilig
zur Naturphiloſophie übergingen, ſo machten ſie es auch in
der Geſchichte. Auch hier zeigen ſie denſelben Mangel an
nüchterner Methode und beſonnener Zurückhaltung. Sie hatten
von Natur eine Abneigung gegen alles Regelloſe und Maſſen¬
hafte; ſie wollten überall ordnen und geſtalten, und ſo geſchah
es, daß gerade ihr Bedürfniß nach Geſetz und Regel ſie zu
willkürlicher Behandlung des Stoffs verleitete. Anſtatt die
Gränzen erfahrungsmäßiger Kenntniß feſtzuſtellen und vor¬
ſichtig einzuhalten, gingen ſie keck darüber hinaus und con¬
ſtruirten unerforſchte Zeit- und Welträume nach Linien und
Zahlen, welche keine andere Begründung hatten, als daß ſie
dem Streben nach Ueberſichtlichkeit und Regelmäßigkeit ent¬
ſprachen. So theilt Hekataios die Königsreihen von Aſſur
in zwei Dynaſtieen von gleicher Länge; ſo mußte einer ge¬
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/286>, abgerufen am 22.07.2024.
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