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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
sie sollen auch nicht bloß an die Jugend gerichtet sein, um sie
vor der Täuschung zu bewahren, daß im Bücherlesen ein Ersatz
für das Hören zu finden wäre, sondern sie enthalten ganz
besonders für die Lehrer der Wissenschaft eine Aufforderung
vom höchsten Ernste. Ihre Sache ist es, das lebendige Wort
in vollen Ehren zu erhalten, den durch nichts zu ersetzenden
Segen desselben kräftig zu erweisen, mit ihrer ganzen Per¬
sönlichkeit für ihre Wissenschaft einzutreten und, was sie geben,
aus dem Schatze eigener Lebenserfahrung darzureichen. Als
ein Vorbild unseres Berufs haben wir die Hellenen, welche
den Schriftvölkern der älteren Zeit gegenüber das freie Wort
zu voller Geltung gebracht haben. Sie lehren uns, was
lehren sei, und Platon's Akademie bleibt ewig das Vorbild
jedes akademischen Unterrichts. Denn so Vieles auch jetzt
anders sein muß, seit sich das menschliche Wissen in eine
Menge von Fachkenntnissen gespalten hat, und das Umfassen
des Ganzen, das Erfassen der einen Wissenschaft immer mehr
ein fast übermenschliches Geistesvermögen erfordert, so können
und sollen wir doch die Hauptsache festhalten, daß nämlich
die Rede des Lehrers eine Seelenleitung werde, daß das
lebendige Wort den Geist des Jünglings lebendig mache und
ihm zeige, wie er inmitten der zerstreuenden Masse äußerer
Eindrücke die innere Sammlung sich bewahre und den festen
Kern einer Persönlichkeit, die nichts annimmt, ohne es sich
wahrhaft anzueignen, und die aus allen Zweifeln, Kämpfen
und Anstrengungen immer geläuterter und gesünder hervorgeht,
so wird mehr und mehr alles Wissen in Können, alles Lernen
in Erkennen, alle Schulweisheit in Lebensweisheit sich ver¬
wandeln. Wenn wir in dieser Auffassung unsers Berufs einer
Meinung sind, so wird auch der heutige Festtag unserer Uni¬
versität dazu beitragen, das Gefühl treuer Gemeinschaft und
fester Uebereinstimmung im Denken und Handeln, in Lehre
und Wissenschaft unter uns zu erhöhen.


Wort und Schrift.
ſie ſollen auch nicht bloß an die Jugend gerichtet ſein, um ſie
vor der Täuſchung zu bewahren, daß im Bücherleſen ein Erſatz
für das Hören zu finden wäre, ſondern ſie enthalten ganz
beſonders für die Lehrer der Wiſſenſchaft eine Aufforderung
vom höchſten Ernſte. Ihre Sache iſt es, das lebendige Wort
in vollen Ehren zu erhalten, den durch nichts zu erſetzenden
Segen deſſelben kräftig zu erweiſen, mit ihrer ganzen Per¬
ſönlichkeit für ihre Wiſſenſchaft einzutreten und, was ſie geben,
aus dem Schatze eigener Lebenserfahrung darzureichen. Als
ein Vorbild unſeres Berufs haben wir die Hellenen, welche
den Schriftvölkern der älteren Zeit gegenüber das freie Wort
zu voller Geltung gebracht haben. Sie lehren uns, was
lehren ſei, und Platon's Akademie bleibt ewig das Vorbild
jedes akademiſchen Unterrichts. Denn ſo Vieles auch jetzt
anders ſein muß, ſeit ſich das menſchliche Wiſſen in eine
Menge von Fachkenntniſſen geſpalten hat, und das Umfaſſen
des Ganzen, das Erfaſſen der einen Wiſſenſchaft immer mehr
ein faſt übermenſchliches Geiſtesvermögen erfordert, ſo können
und ſollen wir doch die Hauptſache feſthalten, daß nämlich
die Rede des Lehrers eine Seelenleitung werde, daß das
lebendige Wort den Geiſt des Jünglings lebendig mache und
ihm zeige, wie er inmitten der zerſtreuenden Maſſe äußerer
Eindrücke die innere Sammlung ſich bewahre und den feſten
Kern einer Perſönlichkeit, die nichts annimmt, ohne es ſich
wahrhaft anzueignen, und die aus allen Zweifeln, Kämpfen
und Anſtrengungen immer geläuterter und geſünder hervorgeht,
ſo wird mehr und mehr alles Wiſſen in Können, alles Lernen
in Erkennen, alle Schulweisheit in Lebensweisheit ſich ver¬
wandeln. Wenn wir in dieſer Auffaſſung unſers Berufs einer
Meinung ſind, ſo wird auch der heutige Feſttag unſerer Uni¬
verſität dazu beitragen, das Gefühl treuer Gemeinſchaft und
feſter Uebereinſtimmung im Denken und Handeln, in Lehre
und Wiſſenſchaft unter uns zu erhöhen.


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[268/0284] Wort und Schrift. ſie ſollen auch nicht bloß an die Jugend gerichtet ſein, um ſie vor der Täuſchung zu bewahren, daß im Bücherleſen ein Erſatz für das Hören zu finden wäre, ſondern ſie enthalten ganz beſonders für die Lehrer der Wiſſenſchaft eine Aufforderung vom höchſten Ernſte. Ihre Sache iſt es, das lebendige Wort in vollen Ehren zu erhalten, den durch nichts zu erſetzenden Segen deſſelben kräftig zu erweiſen, mit ihrer ganzen Per¬ ſönlichkeit für ihre Wiſſenſchaft einzutreten und, was ſie geben, aus dem Schatze eigener Lebenserfahrung darzureichen. Als ein Vorbild unſeres Berufs haben wir die Hellenen, welche den Schriftvölkern der älteren Zeit gegenüber das freie Wort zu voller Geltung gebracht haben. Sie lehren uns, was lehren ſei, und Platon's Akademie bleibt ewig das Vorbild jedes akademiſchen Unterrichts. Denn ſo Vieles auch jetzt anders ſein muß, ſeit ſich das menſchliche Wiſſen in eine Menge von Fachkenntniſſen geſpalten hat, und das Umfaſſen des Ganzen, das Erfaſſen der einen Wiſſenſchaft immer mehr ein faſt übermenſchliches Geiſtesvermögen erfordert, ſo können und ſollen wir doch die Hauptſache feſthalten, daß nämlich die Rede des Lehrers eine Seelenleitung werde, daß das lebendige Wort den Geiſt des Jünglings lebendig mache und ihm zeige, wie er inmitten der zerſtreuenden Maſſe äußerer Eindrücke die innere Sammlung ſich bewahre und den feſten Kern einer Perſönlichkeit, die nichts annimmt, ohne es ſich wahrhaft anzueignen, und die aus allen Zweifeln, Kämpfen und Anſtrengungen immer geläuterter und geſünder hervorgeht, ſo wird mehr und mehr alles Wiſſen in Können, alles Lernen in Erkennen, alle Schulweisheit in Lebensweisheit ſich ver¬ wandeln. Wenn wir in dieſer Auffaſſung unſers Berufs einer Meinung ſind, ſo wird auch der heutige Feſttag unſerer Uni¬ verſität dazu beitragen, das Gefühl treuer Gemeinſchaft und feſter Uebereinſtimmung im Denken und Handeln, in Lehre und Wiſſenſchaft unter uns zu erhöhen.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/284>, abgerufen am 23.11.2024.