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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
Wort zu geistiger Mittheilung vorzüglicher sei, würde uns
noch mehr als sie in Verlegenheit setzen, wenn wir gezwungen
wären, nach einer Seite die Entscheidung zu geben.

Haben wir die Liebe zu dem lebendigen Worte und die
treue Pflege desselben als etwas erkannt, wodurch die Griechen
sich von den älteren Völkern, von den Schriftvölkern des
Morgenlandes unterscheiden, so stehen wir mit unserer Bil¬
dung gewissermaßen zwischen Griechen und Orientalen, oder
vielmehr über dem Gegensatze, den sie bilden. Unsere Religion
und Sitte beruht auf einer Schrift, welche wir als eine hei¬
lige Urkunde und als eine Norm unseres sittlichen Lebens an¬
erkennen. Sie giebt uns, zugleich den Standpunkt für die
Beurtheilung der ganzen Menschengeschichte, indem sie alle
wahrhaftigen Offenbarungen Gottes an die Menschen, also
die ganze Geschichte des von Gott geleiteten Gottesbewußt¬
seins der vorchristlichen Menschheit umfaßt. Um sie bewegt
sich die seit Beginn unsrer Aera verflossene Menschengeschichte,
weil das Schicksal der Völker wesentlich davon abhängt, ob
sie diese Schrift und wie sie dieselbe angenommen haben. Sie
öffnet uns endlich auch den Blick in den noch unvollendeten
Theil der Geschichte und bestimmt unsere Ansicht von dem
Endziele derselben. Also sind wir nicht wie die Griechen dar¬
auf angewiesen, in uns und um uns zu suchen nach dem leben¬
digen Gott und durch eigene Forschung unsrer Bestimmung
bewußt zu werden, sondern wir haben die Ueberlieferung fest¬
zuhalten, wir haben das Gegebene uns anzueignen, wir sind
gebunden wie die Schrift- und Gesetzesvölker des Morgen¬
landes. Indessen lehrt uns dieselbe Schrift, daß der Buch¬
stabe tödte, aber der Geist lebendig mache; sie berechtigt und
fordert die volle Anwendung aller geistigen Kräfte; sie will,
daß ihr Inhalt in lebendigem Worte und fortschreitender Er¬
kenntniß sich immer neu erzeuge und immer neue Gestalt ge¬
winne; sie will also, daß gesetzliche Gebundenheit und hellenische
Freiheit in uns sich versöhne; denn nur aus dieser Versöhnung
kann die wahre Befriedigung des Geistes erwachsen, nach der
wir Alle ringen.

Wort und Schrift.
Wort zu geiſtiger Mittheilung vorzüglicher ſei, würde uns
noch mehr als ſie in Verlegenheit ſetzen, wenn wir gezwungen
wären, nach einer Seite die Entſcheidung zu geben.

Haben wir die Liebe zu dem lebendigen Worte und die
treue Pflege deſſelben als etwas erkannt, wodurch die Griechen
ſich von den älteren Völkern, von den Schriftvölkern des
Morgenlandes unterſcheiden, ſo ſtehen wir mit unſerer Bil¬
dung gewiſſermaßen zwiſchen Griechen und Orientalen, oder
vielmehr über dem Gegenſatze, den ſie bilden. Unſere Religion
und Sitte beruht auf einer Schrift, welche wir als eine hei¬
lige Urkunde und als eine Norm unſeres ſittlichen Lebens an¬
erkennen. Sie giebt uns, zugleich den Standpunkt für die
Beurtheilung der ganzen Menſchengeſchichte, indem ſie alle
wahrhaftigen Offenbarungen Gottes an die Menſchen, alſo
die ganze Geſchichte des von Gott geleiteten Gottesbewußt¬
ſeins der vorchriſtlichen Menſchheit umfaßt. Um ſie bewegt
ſich die ſeit Beginn unſrer Aera verfloſſene Menſchengeſchichte,
weil das Schickſal der Völker weſentlich davon abhängt, ob
ſie dieſe Schrift und wie ſie dieſelbe angenommen haben. Sie
öffnet uns endlich auch den Blick in den noch unvollendeten
Theil der Geſchichte und beſtimmt unſere Anſicht von dem
Endziele derſelben. Alſo ſind wir nicht wie die Griechen dar¬
auf angewieſen, in uns und um uns zu ſuchen nach dem leben¬
digen Gott und durch eigene Forſchung unſrer Beſtimmung
bewußt zu werden, ſondern wir haben die Ueberlieferung feſt¬
zuhalten, wir haben das Gegebene uns anzueignen, wir ſind
gebunden wie die Schrift- und Geſetzesvölker des Morgen¬
landes. Indeſſen lehrt uns dieſelbe Schrift, daß der Buch¬
ſtabe tödte, aber der Geiſt lebendig mache; ſie berechtigt und
fordert die volle Anwendung aller geiſtigen Kräfte; ſie will,
daß ihr Inhalt in lebendigem Worte und fortſchreitender Er¬
kenntniß ſich immer neu erzeuge und immer neue Geſtalt ge¬
winne; ſie will alſo, daß geſetzliche Gebundenheit und helleniſche
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kann die wahre Befriedigung des Geiſtes erwachſen, nach der
wir Alle ringen.

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[265/0281] Wort und Schrift. Wort zu geiſtiger Mittheilung vorzüglicher ſei, würde uns noch mehr als ſie in Verlegenheit ſetzen, wenn wir gezwungen wären, nach einer Seite die Entſcheidung zu geben. Haben wir die Liebe zu dem lebendigen Worte und die treue Pflege deſſelben als etwas erkannt, wodurch die Griechen ſich von den älteren Völkern, von den Schriftvölkern des Morgenlandes unterſcheiden, ſo ſtehen wir mit unſerer Bil¬ dung gewiſſermaßen zwiſchen Griechen und Orientalen, oder vielmehr über dem Gegenſatze, den ſie bilden. Unſere Religion und Sitte beruht auf einer Schrift, welche wir als eine hei¬ lige Urkunde und als eine Norm unſeres ſittlichen Lebens an¬ erkennen. Sie giebt uns, zugleich den Standpunkt für die Beurtheilung der ganzen Menſchengeſchichte, indem ſie alle wahrhaftigen Offenbarungen Gottes an die Menſchen, alſo die ganze Geſchichte des von Gott geleiteten Gottesbewußt¬ ſeins der vorchriſtlichen Menſchheit umfaßt. Um ſie bewegt ſich die ſeit Beginn unſrer Aera verfloſſene Menſchengeſchichte, weil das Schickſal der Völker weſentlich davon abhängt, ob ſie dieſe Schrift und wie ſie dieſelbe angenommen haben. Sie öffnet uns endlich auch den Blick in den noch unvollendeten Theil der Geſchichte und beſtimmt unſere Anſicht von dem Endziele derſelben. Alſo ſind wir nicht wie die Griechen dar¬ auf angewieſen, in uns und um uns zu ſuchen nach dem leben¬ digen Gott und durch eigene Forſchung unſrer Beſtimmung bewußt zu werden, ſondern wir haben die Ueberlieferung feſt¬ zuhalten, wir haben das Gegebene uns anzueignen, wir ſind gebunden wie die Schrift- und Geſetzesvölker des Morgen¬ landes. Indeſſen lehrt uns dieſelbe Schrift, daß der Buch¬ ſtabe tödte, aber der Geiſt lebendig mache; ſie berechtigt und fordert die volle Anwendung aller geiſtigen Kräfte; ſie will, daß ihr Inhalt in lebendigem Worte und fortſchreitender Er¬ kenntniß ſich immer neu erzeuge und immer neue Geſtalt ge¬ winne; ſie will alſo, daß geſetzliche Gebundenheit und helleniſche Freiheit in uns ſich verſöhne; denn nur aus dieſer Verſöhnung kann die wahre Befriedigung des Geiſtes erwachſen, nach der wir Alle ringen.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/281>, abgerufen am 23.11.2024.