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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das Mittleramt der Philologie.
Andere beweist dies die Geschichte der Wissenschaft. Denn aus
keinem anderen Grund erkennen wir in Scaliger den größten
Philologen, als weil er der italiänischen Einseitigkeit gegen¬
über seinen hellen und freien Blick auf alle geistigen Interessen
ausdehnte, und während er an den religiösen Bewegungen sei¬
ner Zeit und seiner Nation mit Herz und Kopf vollen Antheil
nahm, in unermüdlicher Forschung Morgen- und Abendland,
Bibel und Klassiker, Grammatik und Sachkunde, Textkritik und
chronologische Geschichte in urkräftigem Geiste umfaßte.

Seit Wiederherstellung der Wissenschaften sind die größten
Resultate immer durch die Verbindung verschiedener Fächer
gelungen. In Scaliger's Vaterlande haben die vereinten Be¬
strebungen von Jurisprudenz und Philologie den Grund ge¬
legt zu einem großartigen Aufbaue der römischen Alterthümer.
So wie sich die Philologie von diesen weiteren Gesichtspunkten
zurückzog, sank sie zu den Leistungen eines kleinmeisterlichen
Sammelfleißes hinab, bis in neuerer Zeit durch Niebuhr und
Savigny die alte Vereinigung wieder hergestellt wurde, um
in kurzer Zeit Außerordentliches zu leisten. Niebuhr's Geist
hat die ganze Philologie mit neuen Lebensströmen befruchtet,
weil er in ihr Gebiet mit dem umfassenden Blicke des Staats¬
manns und Historikers hineintrat, und die außerordentlichen
Leistungen des Mannes, dessen Jubelfest neulich auch unter
uns mit freudiger Theilnahme gefeiert worden ist*), beruhen sie
nicht vorzugsweise darauf, daß er Gesichtspunkte, welche dem
engeren Kreise philologischer Gelehrsamkeit ferne lagen, zum
ersten Male geltend gemacht, daß er sich nicht begnügt hat,
mit dem Auge des Enthusiasmus die alte Welt zu betrachten,
sondern auch die materiellen Grundlagen der alten Staaten an
das Licht gestellt und so eine antike Staatswirthschaftslehre
begründet hat, an deren Möglichkeit vor ihm kaum Einer ge¬
dacht hatte, daß er mit dem Geiste des Historikers die ver¬
witterten Steinschriften der Hellenen zu einem zusammenhängen¬
den Urkundenwerke, zu einem Archive hellenischer Geschichte
vereinigt, daß er endlich mit dem feinen Sinne eines Mathe¬

*) August Böckh.

Das Mittleramt der Philologie.
Andere beweiſt dies die Geſchichte der Wiſſenſchaft. Denn aus
keinem anderen Grund erkennen wir in Scaliger den größten
Philologen, als weil er der italiäniſchen Einſeitigkeit gegen¬
über ſeinen hellen und freien Blick auf alle geiſtigen Intereſſen
ausdehnte, und während er an den religiöſen Bewegungen ſei¬
ner Zeit und ſeiner Nation mit Herz und Kopf vollen Antheil
nahm, in unermüdlicher Forſchung Morgen- und Abendland,
Bibel und Klaſſiker, Grammatik und Sachkunde, Textkritik und
chronologiſche Geſchichte in urkräftigem Geiſte umfaßte.

Seit Wiederherſtellung der Wiſſenſchaften ſind die größten
Reſultate immer durch die Verbindung verſchiedener Fächer
gelungen. In Scaliger's Vaterlande haben die vereinten Be¬
ſtrebungen von Jurisprudenz und Philologie den Grund ge¬
legt zu einem großartigen Aufbaue der römiſchen Alterthümer.
So wie ſich die Philologie von dieſen weiteren Geſichtspunkten
zurückzog, ſank ſie zu den Leiſtungen eines kleinmeiſterlichen
Sammelfleißes hinab, bis in neuerer Zeit durch Niebuhr und
Savigny die alte Vereinigung wieder hergeſtellt wurde, um
in kurzer Zeit Außerordentliches zu leiſten. Niebuhr's Geiſt
hat die ganze Philologie mit neuen Lebensſtrömen befruchtet,
weil er in ihr Gebiet mit dem umfaſſenden Blicke des Staats¬
manns und Hiſtorikers hineintrat, und die außerordentlichen
Leiſtungen des Mannes, deſſen Jubelfeſt neulich auch unter
uns mit freudiger Theilnahme gefeiert worden iſt*), beruhen ſie
nicht vorzugsweiſe darauf, daß er Geſichtspunkte, welche dem
engeren Kreiſe philologiſcher Gelehrſamkeit ferne lagen, zum
erſten Male geltend gemacht, daß er ſich nicht begnügt hat,
mit dem Auge des Enthuſiasmus die alte Welt zu betrachten,
ſondern auch die materiellen Grundlagen der alten Staaten an
das Licht geſtellt und ſo eine antike Staatswirthſchaftslehre
begründet hat, an deren Möglichkeit vor ihm kaum Einer ge¬
dacht hatte, daß er mit dem Geiſte des Hiſtorikers die ver¬
witterten Steinſchriften der Hellenen zu einem zuſammenhängen¬
den Urkundenwerke, zu einem Archive helleniſcher Geſchichte
vereinigt, daß er endlich mit dem feinen Sinne eines Mathe¬

*) Auguſt Böckh.
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[12/0028] Das Mittleramt der Philologie. Andere beweiſt dies die Geſchichte der Wiſſenſchaft. Denn aus keinem anderen Grund erkennen wir in Scaliger den größten Philologen, als weil er der italiäniſchen Einſeitigkeit gegen¬ über ſeinen hellen und freien Blick auf alle geiſtigen Intereſſen ausdehnte, und während er an den religiöſen Bewegungen ſei¬ ner Zeit und ſeiner Nation mit Herz und Kopf vollen Antheil nahm, in unermüdlicher Forſchung Morgen- und Abendland, Bibel und Klaſſiker, Grammatik und Sachkunde, Textkritik und chronologiſche Geſchichte in urkräftigem Geiſte umfaßte. Seit Wiederherſtellung der Wiſſenſchaften ſind die größten Reſultate immer durch die Verbindung verſchiedener Fächer gelungen. In Scaliger's Vaterlande haben die vereinten Be¬ ſtrebungen von Jurisprudenz und Philologie den Grund ge¬ legt zu einem großartigen Aufbaue der römiſchen Alterthümer. So wie ſich die Philologie von dieſen weiteren Geſichtspunkten zurückzog, ſank ſie zu den Leiſtungen eines kleinmeiſterlichen Sammelfleißes hinab, bis in neuerer Zeit durch Niebuhr und Savigny die alte Vereinigung wieder hergeſtellt wurde, um in kurzer Zeit Außerordentliches zu leiſten. Niebuhr's Geiſt hat die ganze Philologie mit neuen Lebensſtrömen befruchtet, weil er in ihr Gebiet mit dem umfaſſenden Blicke des Staats¬ manns und Hiſtorikers hineintrat, und die außerordentlichen Leiſtungen des Mannes, deſſen Jubelfeſt neulich auch unter uns mit freudiger Theilnahme gefeiert worden iſt *), beruhen ſie nicht vorzugsweiſe darauf, daß er Geſichtspunkte, welche dem engeren Kreiſe philologiſcher Gelehrſamkeit ferne lagen, zum erſten Male geltend gemacht, daß er ſich nicht begnügt hat, mit dem Auge des Enthuſiasmus die alte Welt zu betrachten, ſondern auch die materiellen Grundlagen der alten Staaten an das Licht geſtellt und ſo eine antike Staatswirthſchaftslehre begründet hat, an deren Möglichkeit vor ihm kaum Einer ge¬ dacht hatte, daß er mit dem Geiſte des Hiſtorikers die ver¬ witterten Steinſchriften der Hellenen zu einem zuſammenhängen¬ den Urkundenwerke, zu einem Archive helleniſcher Geſchichte vereinigt, daß er endlich mit dem feinen Sinne eines Mathe¬ *) Auguſt Böckh.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/28>, abgerufen am 23.11.2024.