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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
streben gegen das Schriftwesen einen charakteristischen Zug des
griechischen Volks zu erkennen. So wird es erklärlich, wie
schon in den homerischen Gedichten die Kenntniß einer Zeichen¬
schrift erwähnt wird und doch Jahrhunderte vergehen, bis der
Zeitpunkt eintritt, wo der Schriftgebrauch eine solche Aus¬
dehnung gewinnt, um in das geistige Leben des Volks einzu¬
greifen. Denn je wichtiger eine Erfindung ist für die gesammte
Volksentwickelung, um so weniger ist ihre Annahme ein bloß
äußerlicher Akt, und je mehr eine Nation zu einer selbständigen
Cultur den Beruf empfangen und den Anfang gemacht hat,
um so mehr weiß sie das Fremde zur rechten Zeit aufzunehmen
und in sich zu verarbeiten, während Völker, die wenig Eigenes
haben, im Ganzen und Großen die fremde Cultur annehmen
und in dieselbe aufgehen.

Wir betrachten die Griechen als die ersten Urheber einer
großen und allseitigen Litteratur, welche für die späteren
Völker eine vorbildliche geworden ist. Die Bedeutung der¬
selben beruht aber wesentlich darauf, daß sie so lange von
jedem Einflusse der Schrift frei geblieben, daß sie so spät erst
im strengen Sinne des Worts eine Litteratur geworden ist.
Wir loben nicht, wenn wir von Jemand sagen, er spreche wie
ein Buch; wir rühmen vielmehr ein Buch, dessen Sprache uns
wie eine volksthümliche Rede anspricht. Darin giebt sich unsere
Abneigung gegen die Schriftsprache zu erkennen. Was wir so
nennen, wird aber dadurch hervorgebracht, daß die Sprache
durch die Schrift ein Gegenstand des Nachdenkens wird, daß
sie die Unmittelbarkeit und Unbefangenheit, die Wärme des
frisch aus dem Geiste Geborenen verliert. Es bildet sich leicht
etwas Unnatürliches und Frostiges, und es bedarf genialer
Naturen, eines Luther, eines Lessing und Goethe, um die
Schriftsprache von ihrem Stelzengange zur Natur zurückzu¬
führen und den Boden des Volksthums wieder zu gewinnen.
Von diesen Nachtheilen blieb die Kunst der Griechen unberührt,
sie blieb lange Zeit frisch und naturwüchsig und erhielt sich
die Anmuth des volksthümlichen Klanges. Wie sehr unter¬
scheidet sich dadurch die hellenische Dichtersprache von der

Wort und Schrift.
ſtreben gegen das Schriftweſen einen charakteriſtiſchen Zug des
griechiſchen Volks zu erkennen. So wird es erklärlich, wie
ſchon in den homeriſchen Gedichten die Kenntniß einer Zeichen¬
ſchrift erwähnt wird und doch Jahrhunderte vergehen, bis der
Zeitpunkt eintritt, wo der Schriftgebrauch eine ſolche Aus¬
dehnung gewinnt, um in das geiſtige Leben des Volks einzu¬
greifen. Denn je wichtiger eine Erfindung iſt für die geſammte
Volksentwickelung, um ſo weniger iſt ihre Annahme ein bloß
äußerlicher Akt, und je mehr eine Nation zu einer ſelbſtändigen
Cultur den Beruf empfangen und den Anfang gemacht hat,
um ſo mehr weiß ſie das Fremde zur rechten Zeit aufzunehmen
und in ſich zu verarbeiten, während Völker, die wenig Eigenes
haben, im Ganzen und Großen die fremde Cultur annehmen
und in dieſelbe aufgehen.

Wir betrachten die Griechen als die erſten Urheber einer
großen und allſeitigen Litteratur, welche für die ſpäteren
Völker eine vorbildliche geworden iſt. Die Bedeutung der¬
ſelben beruht aber weſentlich darauf, daß ſie ſo lange von
jedem Einfluſſe der Schrift frei geblieben, daß ſie ſo ſpät erſt
im ſtrengen Sinne des Worts eine Litteratur geworden iſt.
Wir loben nicht, wenn wir von Jemand ſagen, er ſpreche wie
ein Buch; wir rühmen vielmehr ein Buch, deſſen Sprache uns
wie eine volksthümliche Rede anſpricht. Darin giebt ſich unſere
Abneigung gegen die Schriftſprache zu erkennen. Was wir ſo
nennen, wird aber dadurch hervorgebracht, daß die Sprache
durch die Schrift ein Gegenſtand des Nachdenkens wird, daß
ſie die Unmittelbarkeit und Unbefangenheit, die Wärme des
friſch aus dem Geiſte Geborenen verliert. Es bildet ſich leicht
etwas Unnatürliches und Froſtiges, und es bedarf genialer
Naturen, eines Luther, eines Leſſing und Goethe, um die
Schriftſprache von ihrem Stelzengange zur Natur zurückzu¬
führen und den Boden des Volksthums wieder zu gewinnen.
Von dieſen Nachtheilen blieb die Kunſt der Griechen unberührt,
ſie blieb lange Zeit friſch und naturwüchſig und erhielt ſich
die Anmuth des volksthümlichen Klanges. Wie ſehr unter¬
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[263/0279] Wort und Schrift. ſtreben gegen das Schriftweſen einen charakteriſtiſchen Zug des griechiſchen Volks zu erkennen. So wird es erklärlich, wie ſchon in den homeriſchen Gedichten die Kenntniß einer Zeichen¬ ſchrift erwähnt wird und doch Jahrhunderte vergehen, bis der Zeitpunkt eintritt, wo der Schriftgebrauch eine ſolche Aus¬ dehnung gewinnt, um in das geiſtige Leben des Volks einzu¬ greifen. Denn je wichtiger eine Erfindung iſt für die geſammte Volksentwickelung, um ſo weniger iſt ihre Annahme ein bloß äußerlicher Akt, und je mehr eine Nation zu einer ſelbſtändigen Cultur den Beruf empfangen und den Anfang gemacht hat, um ſo mehr weiß ſie das Fremde zur rechten Zeit aufzunehmen und in ſich zu verarbeiten, während Völker, die wenig Eigenes haben, im Ganzen und Großen die fremde Cultur annehmen und in dieſelbe aufgehen. Wir betrachten die Griechen als die erſten Urheber einer großen und allſeitigen Litteratur, welche für die ſpäteren Völker eine vorbildliche geworden iſt. Die Bedeutung der¬ ſelben beruht aber weſentlich darauf, daß ſie ſo lange von jedem Einfluſſe der Schrift frei geblieben, daß ſie ſo ſpät erſt im ſtrengen Sinne des Worts eine Litteratur geworden iſt. Wir loben nicht, wenn wir von Jemand ſagen, er ſpreche wie ein Buch; wir rühmen vielmehr ein Buch, deſſen Sprache uns wie eine volksthümliche Rede anſpricht. Darin giebt ſich unſere Abneigung gegen die Schriftſprache zu erkennen. Was wir ſo nennen, wird aber dadurch hervorgebracht, daß die Sprache durch die Schrift ein Gegenſtand des Nachdenkens wird, daß ſie die Unmittelbarkeit und Unbefangenheit, die Wärme des friſch aus dem Geiſte Geborenen verliert. Es bildet ſich leicht etwas Unnatürliches und Froſtiges, und es bedarf genialer Naturen, eines Luther, eines Leſſing und Goethe, um die Schriftſprache von ihrem Stelzengange zur Natur zurückzu¬ führen und den Boden des Volksthums wieder zu gewinnen. Von dieſen Nachtheilen blieb die Kunſt der Griechen unberührt, ſie blieb lange Zeit friſch und naturwüchſig und erhielt ſich die Anmuth des volksthümlichen Klanges. Wie ſehr unter¬ ſcheidet ſich dadurch die helleniſche Dichterſprache von der

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/279>, abgerufen am 23.11.2024.