Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Wort und Schrift. begonnen, einzelne Thatsachen, die dem Gedächtnisse leicht ent¬schwinden, wie die Namen der Könige, der Priester, der Sieger in den Festspielen aufzuzeichnen. Aber gerade in diesem Punkte, wo die Schrift das Gedächtniß der Geschichte stützt, ist doch ihre Bedeutung von den Griechen auffallend vernachlässigt worden, wenn wir vergleichen, was in dieser Beziehung namentlich die Aegypter geleistet haben. Es fehlte den Griechen der nüchterne Sinn, welchen das Interesse für chronologische Geschichte voraussetzt. Sie faßten die Menschengeschichte zu sehr von sittlichen Gesichtspunkten auf; sie suchten in ihr zu sehr Belehrung und Erhebung des Gemüths, um die einfache Treue historischer Berichterstattung würdigen zu können. Darum waren sie in der Aufbewahrung und Benutzung geschichtlicher Urkunden nachlässig, und ihre Geschichtschreiber haben nur in der Zeitgeschichte Großes geleistet. Je mehr die nationale Sitte in Verfall gerieth, um so mehr nahm die Bedeutung des Schriftwesens zu; je mehr Gesetze in Stein geschrieben wurden, um so weniger lebten sie im Geiste der Bürger, um so verworrener wurde ihr Rechtsbewußtsein. Als Bürgerkrieg und Parteiwesen die Harmonie zerstörten, deren die Kunst zu ihrem Gedeihen bedarf, und die Sophistik den Glauben der Väter erschütterte, da begann in Athen die Lese- und Bücher¬ wuth, welche Aristophanes bespöttelt; da begann eine Litteratur für gebildete Leser und damit ging die nationale Dichtung zu Grunde. Wie lange sich aber aus alter Sitte eine Gering¬ schätzung des Schriftwesens erhielt, geht schon daraus hervor, daß man den Beruf dessen, der sich vorzugsweise mit Schreiben zu befassen hatte, als einen sehr niedrigen ansah; selbst die Aufsicht über das Staatsarchiv übertrug man einem öffent¬ lichen Sklaven, und während sonst die von außen eingebürgerten Erfindungen ihren ausländischen Charakter ganz verloren, be¬ hielten die Buchstaben lange Zeit den Namen der phönikischen Zeichen. Wenn man jetzt mehr als je den einzelnen Völkern der Wort und Schrift. begonnen, einzelne Thatſachen, die dem Gedächtniſſe leicht ent¬ſchwinden, wie die Namen der Könige, der Prieſter, der Sieger in den Feſtſpielen aufzuzeichnen. Aber gerade in dieſem Punkte, wo die Schrift das Gedächtniß der Geſchichte ſtützt, iſt doch ihre Bedeutung von den Griechen auffallend vernachläſſigt worden, wenn wir vergleichen, was in dieſer Beziehung namentlich die Aegypter geleiſtet haben. Es fehlte den Griechen der nüchterne Sinn, welchen das Intereſſe für chronologiſche Geſchichte vorausſetzt. Sie faßten die Menſchengeſchichte zu ſehr von ſittlichen Geſichtspunkten auf; ſie ſuchten in ihr zu ſehr Belehrung und Erhebung des Gemüths, um die einfache Treue hiſtoriſcher Berichterſtattung würdigen zu können. Darum waren ſie in der Aufbewahrung und Benutzung geſchichtlicher Urkunden nachläſſig, und ihre Geſchichtſchreiber haben nur in der Zeitgeſchichte Großes geleiſtet. Je mehr die nationale Sitte in Verfall gerieth, um ſo mehr nahm die Bedeutung des Schriftweſens zu; je mehr Geſetze in Stein geſchrieben wurden, um ſo weniger lebten ſie im Geiſte der Bürger, um ſo verworrener wurde ihr Rechtsbewußtſein. Als Bürgerkrieg und Parteiweſen die Harmonie zerſtörten, deren die Kunſt zu ihrem Gedeihen bedarf, und die Sophiſtik den Glauben der Väter erſchütterte, da begann in Athen die Leſe- und Bücher¬ wuth, welche Ariſtophanes beſpöttelt; da begann eine Litteratur für gebildete Leſer und damit ging die nationale Dichtung zu Grunde. Wie lange ſich aber aus alter Sitte eine Gering¬ ſchätzung des Schriftweſens erhielt, geht ſchon daraus hervor, daß man den Beruf deſſen, der ſich vorzugsweiſe mit Schreiben zu befaſſen hatte, als einen ſehr niedrigen anſah; ſelbſt die Aufſicht über das Staatsarchiv übertrug man einem öffent¬ lichen Sklaven, und während ſonſt die von außen eingebürgerten Erfindungen ihren ausländiſchen Charakter ganz verloren, be¬ hielten die Buchſtaben lange Zeit den Namen der phönikiſchen Zeichen. Wenn man jetzt mehr als je den einzelnen Völkern der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0278" n="262"/><fw place="top" type="header">Wort und Schrift.<lb/></fw> begonnen, einzelne Thatſachen, die dem Gedächtniſſe leicht ent¬<lb/> ſchwinden, wie die Namen der Könige, der Prieſter, der Sieger<lb/> in den Feſtſpielen aufzuzeichnen. Aber gerade in dieſem Punkte,<lb/> wo die Schrift das Gedächtniß der Geſchichte ſtützt, iſt doch<lb/> ihre Bedeutung von den Griechen auffallend vernachläſſigt<lb/> worden, wenn wir vergleichen, was in dieſer Beziehung<lb/> namentlich die Aegypter geleiſtet haben. Es fehlte den Griechen<lb/> der nüchterne Sinn, welchen das Intereſſe für chronologiſche<lb/> Geſchichte vorausſetzt. Sie faßten die Menſchengeſchichte zu<lb/> ſehr von ſittlichen Geſichtspunkten auf; ſie ſuchten in ihr zu<lb/> ſehr Belehrung und Erhebung des Gemüths, um die einfache<lb/> Treue hiſtoriſcher Berichterſtattung würdigen zu können. Darum<lb/> waren ſie in der Aufbewahrung und Benutzung geſchichtlicher<lb/> Urkunden nachläſſig, und ihre Geſchichtſchreiber haben nur in<lb/> der Zeitgeſchichte Großes geleiſtet. Je mehr die nationale<lb/> Sitte in Verfall gerieth, um ſo mehr nahm die Bedeutung<lb/> des Schriftweſens zu; je mehr Geſetze in Stein geſchrieben<lb/> wurden, um ſo weniger lebten ſie im Geiſte der Bürger, um<lb/> ſo verworrener wurde ihr Rechtsbewußtſein. Als Bürgerkrieg<lb/> und Parteiweſen die Harmonie zerſtörten, deren die Kunſt<lb/> zu ihrem Gedeihen bedarf, und die Sophiſtik den Glauben der<lb/> Väter erſchütterte, da begann in Athen die Leſe- und Bücher¬<lb/> wuth, welche Ariſtophanes beſpöttelt; da begann eine Litteratur<lb/> für gebildete Leſer und damit ging die nationale Dichtung zu<lb/> Grunde. Wie lange ſich aber aus alter Sitte eine Gering¬<lb/> ſchätzung des Schriftweſens erhielt, geht ſchon daraus hervor,<lb/> daß man den Beruf deſſen, der ſich vorzugsweiſe mit Schreiben<lb/> zu befaſſen hatte, als einen ſehr niedrigen anſah; ſelbſt die<lb/> Aufſicht über das Staatsarchiv übertrug man einem öffent¬<lb/> lichen Sklaven, und während ſonſt die von außen eingebürgerten<lb/> Erfindungen ihren ausländiſchen Charakter ganz verloren, be¬<lb/> hielten die Buchſtaben lange Zeit den Namen der phönikiſchen<lb/> Zeichen.</p><lb/> <p>Wenn man jetzt mehr als je den einzelnen Völkern der<lb/> Geſchichte in Sprache und Sitte ihre Eigenthümlichkeit abzu¬<lb/> lauſchen ſucht, ſo wird man nicht umhin können, in dem Wider¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [262/0278]
Wort und Schrift.
begonnen, einzelne Thatſachen, die dem Gedächtniſſe leicht ent¬
ſchwinden, wie die Namen der Könige, der Prieſter, der Sieger
in den Feſtſpielen aufzuzeichnen. Aber gerade in dieſem Punkte,
wo die Schrift das Gedächtniß der Geſchichte ſtützt, iſt doch
ihre Bedeutung von den Griechen auffallend vernachläſſigt
worden, wenn wir vergleichen, was in dieſer Beziehung
namentlich die Aegypter geleiſtet haben. Es fehlte den Griechen
der nüchterne Sinn, welchen das Intereſſe für chronologiſche
Geſchichte vorausſetzt. Sie faßten die Menſchengeſchichte zu
ſehr von ſittlichen Geſichtspunkten auf; ſie ſuchten in ihr zu
ſehr Belehrung und Erhebung des Gemüths, um die einfache
Treue hiſtoriſcher Berichterſtattung würdigen zu können. Darum
waren ſie in der Aufbewahrung und Benutzung geſchichtlicher
Urkunden nachläſſig, und ihre Geſchichtſchreiber haben nur in
der Zeitgeſchichte Großes geleiſtet. Je mehr die nationale
Sitte in Verfall gerieth, um ſo mehr nahm die Bedeutung
des Schriftweſens zu; je mehr Geſetze in Stein geſchrieben
wurden, um ſo weniger lebten ſie im Geiſte der Bürger, um
ſo verworrener wurde ihr Rechtsbewußtſein. Als Bürgerkrieg
und Parteiweſen die Harmonie zerſtörten, deren die Kunſt
zu ihrem Gedeihen bedarf, und die Sophiſtik den Glauben der
Väter erſchütterte, da begann in Athen die Leſe- und Bücher¬
wuth, welche Ariſtophanes beſpöttelt; da begann eine Litteratur
für gebildete Leſer und damit ging die nationale Dichtung zu
Grunde. Wie lange ſich aber aus alter Sitte eine Gering¬
ſchätzung des Schriftweſens erhielt, geht ſchon daraus hervor,
daß man den Beruf deſſen, der ſich vorzugsweiſe mit Schreiben
zu befaſſen hatte, als einen ſehr niedrigen anſah; ſelbſt die
Aufſicht über das Staatsarchiv übertrug man einem öffent¬
lichen Sklaven, und während ſonſt die von außen eingebürgerten
Erfindungen ihren ausländiſchen Charakter ganz verloren, be¬
hielten die Buchſtaben lange Zeit den Namen der phönikiſchen
Zeichen.
Wenn man jetzt mehr als je den einzelnen Völkern der
Geſchichte in Sprache und Sitte ihre Eigenthümlichkeit abzu¬
lauſchen ſucht, ſo wird man nicht umhin können, in dem Wider¬
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |