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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
und den Segen des geistigen Austausches seinen höchsten Aus¬
druck erhalten hat. Sorgfältig prüft er die Wirkung des ge¬
schriebenen und des mündlichen Worts und findet doch nur in
diesem die wahre Kraft zur Erweckung und Leitung wahrheits¬
suchender Gemüther. Die Schrift gilt ihm nur als Erinnerungs¬
zeichen, nicht als die eigentliche Trägerin der Weisheit, wie es
die Rede ist, welche unmittelbar in das Gemüth des Empfäng¬
lichen niedergeschrieben wird und keinem Mißverständnisse aus¬
gesetzt ist; das Wort verliert seine elektrische Kraft, sowie der
Zusammenhang zerrissen wird zwischen ihm und der Menschen¬
seele, in welcher es mit dem Gedanken zugleich geboren ist.
Darum sind auch die letzten Wahrheiten von Platon's Lehre
nur in mündlicher Ueberlieferung fortgepflanzt worden, wie in
den Gesetzgebungen die höchsten Satzungen, die ungeschriebenen
waren. In dem aber, was Platon geschrieben hat, sucht er
den Charakter schriftlicher Mittheilung so viel wie möglich
zurücktreten zu lassen, den Lehrvortrag in Gespräch und das
todte Wort in das lebendige umzuwandeln. So sehr endlich
auch Platon die schriftlichen Vermächtnisse älterer Philosophen
zu schätzen wußte und so mancherlei er selbst aus Bücher¬
rollen gelernt hat, so hält er doch an dem Grundsatze der
Hellenen fest, daß der weise sei, der von Natur viel wisse, und
begründet ihn durch seine Lehre, daß alles Wissen eine Er¬
innerung sei, ein Sich-Besinnen auf die ewigen Wahrheiten,
welche unbewußt in der Brust des Menschen ruhen.

Gewiß haben auch die Hellenen die Bedeutung der Schrift
erkannt und die Macht zu würdigen gewußt, welche dem mensch¬
lichen Geiste aus ihr erwächst. Sie haben dieselbe zur Er¬
haltung ihrer geistigen Schätze auf das Erfolgreichste benutzt;
dem bibliothekarischen Eifer der Pisistratiden verdanken wir
ja unsern Homer und Hesiod. Mit ihrem künstlerischen Sinne
haben die Athener auch das Schriftwesen aufgefaßt und fort¬
gebildet, und die herrliche Größe ihres Staates bezeugen neben
dem Parthenon die zahllosen Marmorsteine, welche die Schätze
der Stadtgöttin, den Schoß der Bundesgenossen, den Bestand
der Land- und Seemacht aufrechnen, und frühzeitig hat man

Wort und Schrift.
und den Segen des geiſtigen Austauſches ſeinen höchſten Aus¬
druck erhalten hat. Sorgfältig prüft er die Wirkung des ge¬
ſchriebenen und des mündlichen Worts und findet doch nur in
dieſem die wahre Kraft zur Erweckung und Leitung wahrheits¬
ſuchender Gemüther. Die Schrift gilt ihm nur als Erinnerungs¬
zeichen, nicht als die eigentliche Trägerin der Weisheit, wie es
die Rede iſt, welche unmittelbar in das Gemüth des Empfäng¬
lichen niedergeſchrieben wird und keinem Mißverſtändniſſe aus¬
geſetzt iſt; das Wort verliert ſeine elektriſche Kraft, ſowie der
Zuſammenhang zerriſſen wird zwiſchen ihm und der Menſchen¬
ſeele, in welcher es mit dem Gedanken zugleich geboren iſt.
Darum ſind auch die letzten Wahrheiten von Platon's Lehre
nur in mündlicher Ueberlieferung fortgepflanzt worden, wie in
den Geſetzgebungen die höchſten Satzungen, die ungeſchriebenen
waren. In dem aber, was Platon geſchrieben hat, ſucht er
den Charakter ſchriftlicher Mittheilung ſo viel wie möglich
zurücktreten zu laſſen, den Lehrvortrag in Geſpräch und das
todte Wort in das lebendige umzuwandeln. So ſehr endlich
auch Platon die ſchriftlichen Vermächtniſſe älterer Philoſophen
zu ſchätzen wußte und ſo mancherlei er ſelbſt aus Bücher¬
rollen gelernt hat, ſo hält er doch an dem Grundſatze der
Hellenen feſt, daß der weiſe ſei, der von Natur viel wiſſe, und
begründet ihn durch ſeine Lehre, daß alles Wiſſen eine Er¬
innerung ſei, ein Sich-Beſinnen auf die ewigen Wahrheiten,
welche unbewußt in der Bruſt des Menſchen ruhen.

Gewiß haben auch die Hellenen die Bedeutung der Schrift
erkannt und die Macht zu würdigen gewußt, welche dem menſch¬
lichen Geiſte aus ihr erwächſt. Sie haben dieſelbe zur Er¬
haltung ihrer geiſtigen Schätze auf das Erfolgreichſte benutzt;
dem bibliothekariſchen Eifer der Piſiſtratiden verdanken wir
ja unſern Homer und Heſiod. Mit ihrem künſtleriſchen Sinne
haben die Athener auch das Schriftweſen aufgefaßt und fort¬
gebildet, und die herrliche Größe ihres Staates bezeugen neben
dem Parthenon die zahlloſen Marmorſteine, welche die Schätze
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[261/0277] Wort und Schrift. und den Segen des geiſtigen Austauſches ſeinen höchſten Aus¬ druck erhalten hat. Sorgfältig prüft er die Wirkung des ge¬ ſchriebenen und des mündlichen Worts und findet doch nur in dieſem die wahre Kraft zur Erweckung und Leitung wahrheits¬ ſuchender Gemüther. Die Schrift gilt ihm nur als Erinnerungs¬ zeichen, nicht als die eigentliche Trägerin der Weisheit, wie es die Rede iſt, welche unmittelbar in das Gemüth des Empfäng¬ lichen niedergeſchrieben wird und keinem Mißverſtändniſſe aus¬ geſetzt iſt; das Wort verliert ſeine elektriſche Kraft, ſowie der Zuſammenhang zerriſſen wird zwiſchen ihm und der Menſchen¬ ſeele, in welcher es mit dem Gedanken zugleich geboren iſt. Darum ſind auch die letzten Wahrheiten von Platon's Lehre nur in mündlicher Ueberlieferung fortgepflanzt worden, wie in den Geſetzgebungen die höchſten Satzungen, die ungeſchriebenen waren. In dem aber, was Platon geſchrieben hat, ſucht er den Charakter ſchriftlicher Mittheilung ſo viel wie möglich zurücktreten zu laſſen, den Lehrvortrag in Geſpräch und das todte Wort in das lebendige umzuwandeln. So ſehr endlich auch Platon die ſchriftlichen Vermächtniſſe älterer Philoſophen zu ſchätzen wußte und ſo mancherlei er ſelbſt aus Bücher¬ rollen gelernt hat, ſo hält er doch an dem Grundſatze der Hellenen feſt, daß der weiſe ſei, der von Natur viel wiſſe, und begründet ihn durch ſeine Lehre, daß alles Wiſſen eine Er¬ innerung ſei, ein Sich-Beſinnen auf die ewigen Wahrheiten, welche unbewußt in der Bruſt des Menſchen ruhen. Gewiß haben auch die Hellenen die Bedeutung der Schrift erkannt und die Macht zu würdigen gewußt, welche dem menſch¬ lichen Geiſte aus ihr erwächſt. Sie haben dieſelbe zur Er¬ haltung ihrer geiſtigen Schätze auf das Erfolgreichſte benutzt; dem bibliothekariſchen Eifer der Piſiſtratiden verdanken wir ja unſern Homer und Heſiod. Mit ihrem künſtleriſchen Sinne haben die Athener auch das Schriftweſen aufgefaßt und fort¬ gebildet, und die herrliche Größe ihres Staates bezeugen neben dem Parthenon die zahlloſen Marmorſteine, welche die Schätze der Stadtgöttin, den Schoß der Bundesgenoſſen, den Beſtand der Land- und Seemacht aufrechnen, und frühzeitig hat man

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/277>, abgerufen am 23.11.2024.