Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Wort und Schrift. nahe gebracht und gleichsam zu Gemüthe geführt werden;darum werden sie von der Jugend gelernt; es werden Männer bestellt, welche sie der Gemeinde in musikalischer Weise vor¬ tragen, als die persönlichen Vertreter des Gesetzes. Denn auf persönlichem Verkehre beruhte das Gemeinwesen der Griechen. Daher hatten sie eine so entschiedene Abneigung gegen jede Vergrößerung des Gemeinwesens, welche ein persönliches Zu¬ sammenwirken aller Bürger unmöglich machte und andere Mittel der Verständigung als das des lebendigen Worts er¬ heischte. Die bürgerliche Gemeinde hat, wie jedes organische Wesen, ihr Maß, das sie nicht überschreiten darf, wenn sie ihrer Bestimmung entsprechen soll. Wie eine zu kleine Ge¬ meinde der Selbständigkeit entbehrt, die sie haben muß, wenn sie ein eigener Staat sein will, so die zu große Stadtgemeinde der Uebersichtlichkeit. Es müssen alle Staatsgenossen einander kennen können, damit die Wahl der Vorstände nicht vom Zufalle abhänge; es muß der Feldherr seine Truppen, der Volksredner die Gemeinde kennen, um erfolgreich wirken zu können. Auch darf ja, sagt Aristoteles, indem er sich den Vorstellungen altgriechischer Stadtpolitik auf das Genauste an¬ schließt, die Bürgerversammlung schon deshalb nicht allzugroß sein, weil sonst kein Herold ausfindig gemacht werden könnte, dessen Stimme im Stande wäre, sie zu beherrschen. So wird die Möglichkeit eines mündlichen Verkehrs und einer persön¬ lichen Bekanntschaft zum Maßstabe für die Größe des Staats genommen. Unter den Wissenschaften hat keine das Bedürfniß schrift¬ Curtius, Alterthum. 17
Wort und Schrift. nahe gebracht und gleichſam zu Gemüthe geführt werden;darum werden ſie von der Jugend gelernt; es werden Männer beſtellt, welche ſie der Gemeinde in muſikaliſcher Weiſe vor¬ tragen, als die perſönlichen Vertreter des Geſetzes. Denn auf perſönlichem Verkehre beruhte das Gemeinweſen der Griechen. Daher hatten ſie eine ſo entſchiedene Abneigung gegen jede Vergrößerung des Gemeinweſens, welche ein perſönliches Zu¬ ſammenwirken aller Bürger unmöglich machte und andere Mittel der Verſtändigung als das des lebendigen Worts er¬ heiſchte. Die bürgerliche Gemeinde hat, wie jedes organiſche Weſen, ihr Maß, das ſie nicht überſchreiten darf, wenn ſie ihrer Beſtimmung entſprechen ſoll. Wie eine zu kleine Ge¬ meinde der Selbſtändigkeit entbehrt, die ſie haben muß, wenn ſie ein eigener Staat ſein will, ſo die zu große Stadtgemeinde der Ueberſichtlichkeit. Es müſſen alle Staatsgenoſſen einander kennen können, damit die Wahl der Vorſtände nicht vom Zufalle abhänge; es muß der Feldherr ſeine Truppen, der Volksredner die Gemeinde kennen, um erfolgreich wirken zu können. Auch darf ja, ſagt Ariſtoteles, indem er ſich den Vorſtellungen altgriechiſcher Stadtpolitik auf das Genauſte an¬ ſchließt, die Bürgerverſammlung ſchon deshalb nicht allzugroß ſein, weil ſonſt kein Herold ausfindig gemacht werden könnte, deſſen Stimme im Stande wäre, ſie zu beherrſchen. So wird die Möglichkeit eines mündlichen Verkehrs und einer perſön¬ lichen Bekanntſchaft zum Maßſtabe für die Größe des Staats genommen. Unter den Wiſſenſchaften hat keine das Bedürfniß ſchrift¬ Curtius, Alterthum. 17
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Wort und Schrift.
nahe gebracht und gleichſam zu Gemüthe geführt werden;
darum werden ſie von der Jugend gelernt; es werden Männer
beſtellt, welche ſie der Gemeinde in muſikaliſcher Weiſe vor¬
tragen, als die perſönlichen Vertreter des Geſetzes. Denn auf
perſönlichem Verkehre beruhte das Gemeinweſen der Griechen.
Daher hatten ſie eine ſo entſchiedene Abneigung gegen jede
Vergrößerung des Gemeinweſens, welche ein perſönliches Zu¬
ſammenwirken aller Bürger unmöglich machte und andere
Mittel der Verſtändigung als das des lebendigen Worts er¬
heiſchte. Die bürgerliche Gemeinde hat, wie jedes organiſche
Weſen, ihr Maß, das ſie nicht überſchreiten darf, wenn ſie
ihrer Beſtimmung entſprechen ſoll. Wie eine zu kleine Ge¬
meinde der Selbſtändigkeit entbehrt, die ſie haben muß, wenn
ſie ein eigener Staat ſein will, ſo die zu große Stadtgemeinde
der Ueberſichtlichkeit. Es müſſen alle Staatsgenoſſen einander
kennen können, damit die Wahl der Vorſtände nicht vom
Zufalle abhänge; es muß der Feldherr ſeine Truppen, der
Volksredner die Gemeinde kennen, um erfolgreich wirken zu
können. Auch darf ja, ſagt Ariſtoteles, indem er ſich den
Vorſtellungen altgriechiſcher Stadtpolitik auf das Genauſte an¬
ſchließt, die Bürgerverſammlung ſchon deshalb nicht allzugroß
ſein, weil ſonſt kein Herold ausfindig gemacht werden könnte,
deſſen Stimme im Stande wäre, ſie zu beherrſchen. So wird
die Möglichkeit eines mündlichen Verkehrs und einer perſön¬
lichen Bekanntſchaft zum Maßſtabe für die Größe des Staats
genommen.
Unter den Wiſſenſchaften hat keine das Bedürfniß ſchrift¬
licher Aufzeichnung früher empfunden, als die Arzneiwiſſen¬
ſchaft. Hier fühlte man die Nothwendigkeit, eine Menge von
Thatſachen zu ſammeln, und zugleich die Unmöglichkeit, die¬
ſelben ohne äußere Hülfe im Gedächtniſſe zu behalten. Gerade
hier tritt uns aber der Gegenſatz zwiſchen den Griechen und
den Schriftvölkern des Morgenlandes recht deutlich entgegen.
Bei den Aegyptern gab es mediciniſche Syſteme von geſetzlicher
Autorität, in denen für jede Krankheit eine beſtimmte Behand¬
lungsweiſe vorgezeichnet war, und der Arzt war gebunden, ſich
Curtius, Alterthum. 17
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