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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das Mittleramt der Philologie.
lernen; sie muß selbst kunstbewußt und kunstbegabt sein, um
die Trümmer der alten Poesie zu beleben, sie hinüber zu tra¬
gen in unsere Welt, und nicht bloß um die verlorene Schöne
zu klagen, sondern das Wesen antiker Kunst, den im gebundenen
Worte ungebundenen Geist kräftig und lebendig darzustellen.

Wenn sich aber die Philologie eine weitere Aufgabe stellen
muß, als das Vermächtniß der alten Litteratur zu hüten, wenn
sie das Leben der alten Welt im ganzen Umfange zu umfassen
strebt, und zwar nicht aus einem Gefühle der Ueberhebung und
des Uebermuths, wie es die Alten im Bilde des Ixion dar¬
stellten, sondern aus der Ueberzeugung, daß sich das Alterthum
nicht stückweise begreifen lasse: tritt sie da nicht mit allen Ge¬
bieten neuerer Wissenschaft in eine vielseitige und fruchtbare
Verbindung? In anderen Gebieten geschichtlicher Forschung
ist eine fachmäßige Abgränzung der verschiedenen Seiten des
Menschenlebens nothwendig geworden. Die Philologie kann
in ihrem Bereiche keine Schranken anerkennen, welche Litteratur
und Staatsleben, Recht und Religion von einander trennen.
Sie wird, wenn sie durch die Straßen von Rom und Athen
wandert, auf jedem Schritte an die verschiedenartigsten Be¬
ziehungen des menschlichen Lebens erinnert. Sie kann an
den Altären nicht vorübergehen, ohne der Geschichte des reli¬
giösen Bewußtseins nachzusinnen; sie kann den Berathungen
der Volksversammlungen, den Abstimmungen der Geschwornen¬
gerichte nicht beiwohnen, ohne den Trieb zu empfinden, auch
neuere Rechtsordnungen kennen zu lernen; sie muß sich durch
Beobachtung und Erfahrung in Stand setzen, ein Bild bürger¬
licher Zustände zu entwerfen, auf daß die Geschichte des Alter¬
thums nicht wie ein Schattenspiel erscheine, sondern seine Hel¬
den vor uns handeln wie Menschen von Fleisch und Blut in
menschlicher Gesellschaft.

Darum ist für philologische Studien nichts hemmender,
als die Stubenluft beschränkter Fachkenntniß, nichts nothwendi¬
ger und heilsamer, als eine ausgedehnte Kunde menschlicher
Dinge, und ein guter Philologe muß mit den Alten sagen,
daß ihm nichts Menschliches ferne stehe. Besser, als alles

Das Mittleramt der Philologie.
lernen; ſie muß ſelbſt kunſtbewußt und kunſtbegabt ſein, um
die Trümmer der alten Poeſie zu beleben, ſie hinüber zu tra¬
gen in unſere Welt, und nicht bloß um die verlorene Schöne
zu klagen, ſondern das Weſen antiker Kunſt, den im gebundenen
Worte ungebundenen Geiſt kräftig und lebendig darzuſtellen.

Wenn ſich aber die Philologie eine weitere Aufgabe ſtellen
muß, als das Vermächtniß der alten Litteratur zu hüten, wenn
ſie das Leben der alten Welt im ganzen Umfange zu umfaſſen
ſtrebt, und zwar nicht aus einem Gefühle der Ueberhebung und
des Uebermuths, wie es die Alten im Bilde des Ixion dar¬
ſtellten, ſondern aus der Ueberzeugung, daß ſich das Alterthum
nicht ſtückweiſe begreifen laſſe: tritt ſie da nicht mit allen Ge¬
bieten neuerer Wiſſenſchaft in eine vielſeitige und fruchtbare
Verbindung? In anderen Gebieten geſchichtlicher Forſchung
iſt eine fachmäßige Abgränzung der verſchiedenen Seiten des
Menſchenlebens nothwendig geworden. Die Philologie kann
in ihrem Bereiche keine Schranken anerkennen, welche Litteratur
und Staatsleben, Recht und Religion von einander trennen.
Sie wird, wenn ſie durch die Straßen von Rom und Athen
wandert, auf jedem Schritte an die verſchiedenartigſten Be¬
ziehungen des menſchlichen Lebens erinnert. Sie kann an
den Altären nicht vorübergehen, ohne der Geſchichte des reli¬
giöſen Bewußtſeins nachzuſinnen; ſie kann den Berathungen
der Volksverſammlungen, den Abſtimmungen der Geſchwornen¬
gerichte nicht beiwohnen, ohne den Trieb zu empfinden, auch
neuere Rechtsordnungen kennen zu lernen; ſie muß ſich durch
Beobachtung und Erfahrung in Stand ſetzen, ein Bild bürger¬
licher Zuſtände zu entwerfen, auf daß die Geſchichte des Alter¬
thums nicht wie ein Schattenſpiel erſcheine, ſondern ſeine Hel¬
den vor uns handeln wie Menſchen von Fleiſch und Blut in
menſchlicher Geſellſchaft.

Darum iſt für philologiſche Studien nichts hemmender,
als die Stubenluft beſchränkter Fachkenntniß, nichts nothwendi¬
ger und heilſamer, als eine ausgedehnte Kunde menſchlicher
Dinge, und ein guter Philologe muß mit den Alten ſagen,
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[11/0027] Das Mittleramt der Philologie. lernen; ſie muß ſelbſt kunſtbewußt und kunſtbegabt ſein, um die Trümmer der alten Poeſie zu beleben, ſie hinüber zu tra¬ gen in unſere Welt, und nicht bloß um die verlorene Schöne zu klagen, ſondern das Weſen antiker Kunſt, den im gebundenen Worte ungebundenen Geiſt kräftig und lebendig darzuſtellen. Wenn ſich aber die Philologie eine weitere Aufgabe ſtellen muß, als das Vermächtniß der alten Litteratur zu hüten, wenn ſie das Leben der alten Welt im ganzen Umfange zu umfaſſen ſtrebt, und zwar nicht aus einem Gefühle der Ueberhebung und des Uebermuths, wie es die Alten im Bilde des Ixion dar¬ ſtellten, ſondern aus der Ueberzeugung, daß ſich das Alterthum nicht ſtückweiſe begreifen laſſe: tritt ſie da nicht mit allen Ge¬ bieten neuerer Wiſſenſchaft in eine vielſeitige und fruchtbare Verbindung? In anderen Gebieten geſchichtlicher Forſchung iſt eine fachmäßige Abgränzung der verſchiedenen Seiten des Menſchenlebens nothwendig geworden. Die Philologie kann in ihrem Bereiche keine Schranken anerkennen, welche Litteratur und Staatsleben, Recht und Religion von einander trennen. Sie wird, wenn ſie durch die Straßen von Rom und Athen wandert, auf jedem Schritte an die verſchiedenartigſten Be¬ ziehungen des menſchlichen Lebens erinnert. Sie kann an den Altären nicht vorübergehen, ohne der Geſchichte des reli¬ giöſen Bewußtſeins nachzuſinnen; ſie kann den Berathungen der Volksverſammlungen, den Abſtimmungen der Geſchwornen¬ gerichte nicht beiwohnen, ohne den Trieb zu empfinden, auch neuere Rechtsordnungen kennen zu lernen; ſie muß ſich durch Beobachtung und Erfahrung in Stand ſetzen, ein Bild bürger¬ licher Zuſtände zu entwerfen, auf daß die Geſchichte des Alter¬ thums nicht wie ein Schattenſpiel erſcheine, ſondern ſeine Hel¬ den vor uns handeln wie Menſchen von Fleiſch und Blut in menſchlicher Geſellſchaft. Darum iſt für philologiſche Studien nichts hemmender, als die Stubenluft beſchränkter Fachkenntniß, nichts nothwendi¬ ger und heilſamer, als eine ausgedehnte Kunde menſchlicher Dinge, und ein guter Philologe muß mit den Alten ſagen, daß ihm nichts Menſchliches ferne ſtehe. Beſſer, als alles

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/27>, abgerufen am 24.11.2024.