Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Wort und Schrift.
kommen ganze Schriftsammlungen und Bibliotheken assyrischer
Fürsten zu Tage.

Die Griechen selbst schrieben die Erfindung und Verbrei¬
tung der Schrift vorzugsweise den Phöniziern zu, welche als
gewinnsüchtige Handelsleute in ihr Land gekommen sind, aber
unendlich mehr gegeben als genommen haben, indem sie
dazu dienen mußten, die Frucht der morgenländischen Bildung
als neue Aussaat auf den jungfräulichen Boden Europa's
auszustreuen. Wenn nun die Griechen mit dem schriftkundigen
Morgenlande in so früher und folgenreicher Verbindung ge¬
standen haben, daß sie von dort Maß und Gewicht, Seefahrt,
Sternkunde, Zeitrechnung, Gottesdienste, Künste und Kunst¬
fertigkeiten aller Art sich aneigneten, sollten sie, das lern¬
begierigste Volk der Welt, die wichtigste aller Erfindungen des
Morgenlandes nicht sofort in ihrer ganzen Bedeutung erkannt
und mit besonderem Eifer sich zu eigen gemacht haben? Das
scheint unglaublich, und deshalb wird von Vielen ein aus¬
gedehnter Schriftgebrauch schon in die ersten Anfänge der
griechischen Cultur gesetzt. Da nun von der richtigen Beurthei¬
lung dieser Streitfrage unsere ganze Vorstellung von der Bil¬
dungsgeschichte der Hellenen abhängig ist, so wird es mir
vergönnt sein, einige Gesichtspunkte geltend zu machen, welche
auf diese wichtige Frage bezüglich sind.

Was bei den orientalischen Völkern zuerst eine umfang¬
reichere Anwendung der Schrift veranlaßt hat, wird schwer
zu bestimmen sein; eine ihrer frühesten und wichtigsten An¬
wendungen war aber ohne Zweifel die Aufzeichnung von Ge¬
setzen, welche die unwandelbare Richtschnur des Glaubens und
der Volkssitte sein sollten. Hier ist die Aufzeichnung etwas
so Wesentliches, daß die Tafeln des Sinai geschrieben aus
Gottes Hand an Mose gelangen; der oberste Gesetzgeber ist
auch Urheber der Schrift, die eingegrabene Schrift ist Gottes
Schrift. Aehnliches finden wir bei allen Völkern, deren Re¬
ligion auf einem Gesetze beruht. Die Aegypter hatten heilige
Bücher, die der Gott Thoth geschrieben haben sollte; den In¬
dern galt Brahma als Schreiber der Gesetze, die des Manu

Wort und Schrift.
kommen ganze Schriftſammlungen und Bibliotheken aſſyriſcher
Fürſten zu Tage.

Die Griechen ſelbſt ſchrieben die Erfindung und Verbrei¬
tung der Schrift vorzugsweiſe den Phöniziern zu, welche als
gewinnſüchtige Handelsleute in ihr Land gekommen ſind, aber
unendlich mehr gegeben als genommen haben, indem ſie
dazu dienen mußten, die Frucht der morgenländiſchen Bildung
als neue Ausſaat auf den jungfräulichen Boden Europa's
auszuſtreuen. Wenn nun die Griechen mit dem ſchriftkundigen
Morgenlande in ſo früher und folgenreicher Verbindung ge¬
ſtanden haben, daß ſie von dort Maß und Gewicht, Seefahrt,
Sternkunde, Zeitrechnung, Gottesdienſte, Künſte und Kunſt¬
fertigkeiten aller Art ſich aneigneten, ſollten ſie, das lern¬
begierigſte Volk der Welt, die wichtigſte aller Erfindungen des
Morgenlandes nicht ſofort in ihrer ganzen Bedeutung erkannt
und mit beſonderem Eifer ſich zu eigen gemacht haben? Das
ſcheint unglaublich, und deshalb wird von Vielen ein aus¬
gedehnter Schriftgebrauch ſchon in die erſten Anfänge der
griechiſchen Cultur geſetzt. Da nun von der richtigen Beurthei¬
lung dieſer Streitfrage unſere ganze Vorſtellung von der Bil¬
dungsgeſchichte der Hellenen abhängig iſt, ſo wird es mir
vergönnt ſein, einige Geſichtspunkte geltend zu machen, welche
auf dieſe wichtige Frage bezüglich ſind.

Was bei den orientaliſchen Völkern zuerſt eine umfang¬
reichere Anwendung der Schrift veranlaßt hat, wird ſchwer
zu beſtimmen ſein; eine ihrer früheſten und wichtigſten An¬
wendungen war aber ohne Zweifel die Aufzeichnung von Ge¬
ſetzen, welche die unwandelbare Richtſchnur des Glaubens und
der Volksſitte ſein ſollten. Hier iſt die Aufzeichnung etwas
ſo Weſentliches, daß die Tafeln des Sinai geſchrieben aus
Gottes Hand an Moſe gelangen; der oberſte Geſetzgeber iſt
auch Urheber der Schrift, die eingegrabene Schrift iſt Gottes
Schrift. Aehnliches finden wir bei allen Völkern, deren Re¬
ligion auf einem Geſetze beruht. Die Aegypter hatten heilige
Bücher, die der Gott Thoth geſchrieben haben ſollte; den In¬
dern galt Brahma als Schreiber der Geſetze, die des Manu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0269" n="253"/><fw place="top" type="header">Wort und Schrift.<lb/></fw> kommen ganze Schrift&#x017F;ammlungen und Bibliotheken a&#x017F;&#x017F;yri&#x017F;cher<lb/>
Für&#x017F;ten zu Tage.</p><lb/>
        <p>Die Griechen &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chrieben die Erfindung und Verbrei¬<lb/>
tung der Schrift vorzugswei&#x017F;e den Phöniziern zu, welche als<lb/>
gewinn&#x017F;üchtige Handelsleute in ihr Land gekommen &#x017F;ind, aber<lb/>
unendlich mehr gegeben als genommen haben, indem &#x017F;ie<lb/>
dazu dienen mußten, die Frucht der morgenländi&#x017F;chen Bildung<lb/>
als neue Aus&#x017F;aat auf den jungfräulichen Boden Europa's<lb/>
auszu&#x017F;treuen. Wenn nun die Griechen mit dem &#x017F;chriftkundigen<lb/>
Morgenlande in &#x017F;o früher und folgenreicher Verbindung ge¬<lb/>
&#x017F;tanden haben, daß &#x017F;ie von dort Maß und Gewicht, Seefahrt,<lb/>
Sternkunde, Zeitrechnung, Gottesdien&#x017F;te, Kün&#x017F;te und Kun&#x017F;<lb/>
fertigkeiten aller Art &#x017F;ich aneigneten, &#x017F;ollten &#x017F;ie, das lern¬<lb/>
begierig&#x017F;te Volk der Welt, die wichtig&#x017F;te aller Erfindungen des<lb/>
Morgenlandes nicht &#x017F;ofort in ihrer ganzen Bedeutung erkannt<lb/>
und mit be&#x017F;onderem Eifer &#x017F;ich zu eigen gemacht haben? Das<lb/>
&#x017F;cheint unglaublich, und deshalb wird von Vielen ein aus¬<lb/>
gedehnter Schriftgebrauch &#x017F;chon in die er&#x017F;ten Anfänge der<lb/>
griechi&#x017F;chen Cultur ge&#x017F;etzt. Da nun von der richtigen Beurthei¬<lb/>
lung die&#x017F;er Streitfrage un&#x017F;ere ganze Vor&#x017F;tellung von der Bil¬<lb/>
dungsge&#x017F;chichte der Hellenen abhängig i&#x017F;t, &#x017F;o wird es mir<lb/>
vergönnt &#x017F;ein, einige Ge&#x017F;ichtspunkte geltend zu machen, welche<lb/>
auf die&#x017F;e wichtige Frage bezüglich &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>Was bei den orientali&#x017F;chen Völkern zuer&#x017F;t eine umfang¬<lb/>
reichere Anwendung der Schrift veranlaßt hat, wird &#x017F;chwer<lb/>
zu be&#x017F;timmen &#x017F;ein; eine ihrer frühe&#x017F;ten und wichtig&#x017F;ten An¬<lb/>
wendungen war aber ohne Zweifel die Aufzeichnung von Ge¬<lb/>
&#x017F;etzen, welche die unwandelbare Richt&#x017F;chnur des Glaubens und<lb/>
der Volks&#x017F;itte &#x017F;ein &#x017F;ollten. Hier i&#x017F;t die Aufzeichnung etwas<lb/>
&#x017F;o We&#x017F;entliches, daß die Tafeln des Sinai ge&#x017F;chrieben aus<lb/>
Gottes Hand an Mo&#x017F;e gelangen; der ober&#x017F;te Ge&#x017F;etzgeber i&#x017F;t<lb/>
auch Urheber der Schrift, die eingegrabene Schrift i&#x017F;t Gottes<lb/>
Schrift. Aehnliches finden wir bei allen Völkern, deren Re¬<lb/>
ligion auf einem Ge&#x017F;etze beruht. Die Aegypter hatten heilige<lb/>
Bücher, die der Gott Thoth ge&#x017F;chrieben haben &#x017F;ollte; den In¬<lb/>
dern galt Brahma als Schreiber der Ge&#x017F;etze, die des Manu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0269] Wort und Schrift. kommen ganze Schriftſammlungen und Bibliotheken aſſyriſcher Fürſten zu Tage. Die Griechen ſelbſt ſchrieben die Erfindung und Verbrei¬ tung der Schrift vorzugsweiſe den Phöniziern zu, welche als gewinnſüchtige Handelsleute in ihr Land gekommen ſind, aber unendlich mehr gegeben als genommen haben, indem ſie dazu dienen mußten, die Frucht der morgenländiſchen Bildung als neue Ausſaat auf den jungfräulichen Boden Europa's auszuſtreuen. Wenn nun die Griechen mit dem ſchriftkundigen Morgenlande in ſo früher und folgenreicher Verbindung ge¬ ſtanden haben, daß ſie von dort Maß und Gewicht, Seefahrt, Sternkunde, Zeitrechnung, Gottesdienſte, Künſte und Kunſt¬ fertigkeiten aller Art ſich aneigneten, ſollten ſie, das lern¬ begierigſte Volk der Welt, die wichtigſte aller Erfindungen des Morgenlandes nicht ſofort in ihrer ganzen Bedeutung erkannt und mit beſonderem Eifer ſich zu eigen gemacht haben? Das ſcheint unglaublich, und deshalb wird von Vielen ein aus¬ gedehnter Schriftgebrauch ſchon in die erſten Anfänge der griechiſchen Cultur geſetzt. Da nun von der richtigen Beurthei¬ lung dieſer Streitfrage unſere ganze Vorſtellung von der Bil¬ dungsgeſchichte der Hellenen abhängig iſt, ſo wird es mir vergönnt ſein, einige Geſichtspunkte geltend zu machen, welche auf dieſe wichtige Frage bezüglich ſind. Was bei den orientaliſchen Völkern zuerſt eine umfang¬ reichere Anwendung der Schrift veranlaßt hat, wird ſchwer zu beſtimmen ſein; eine ihrer früheſten und wichtigſten An¬ wendungen war aber ohne Zweifel die Aufzeichnung von Ge¬ ſetzen, welche die unwandelbare Richtſchnur des Glaubens und der Volksſitte ſein ſollten. Hier iſt die Aufzeichnung etwas ſo Weſentliches, daß die Tafeln des Sinai geſchrieben aus Gottes Hand an Moſe gelangen; der oberſte Geſetzgeber iſt auch Urheber der Schrift, die eingegrabene Schrift iſt Gottes Schrift. Aehnliches finden wir bei allen Völkern, deren Re¬ ligion auf einem Geſetze beruht. Die Aegypter hatten heilige Bücher, die der Gott Thoth geſchrieben haben ſollte; den In¬ dern galt Brahma als Schreiber der Geſetze, die des Manu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/269
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/269>, abgerufen am 23.11.2024.