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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Alterthume erkennen wir die verschiedenen Stufen einer reine¬
ren Anschauung des Göttlichen, eines Abfalls zum Götzen¬
dienste und der aus dem Götzendienste zum unsichtbaren Gotte
zurückstrebenden Sehnsucht edlerer Geister. Auch die klassische
Welt hat ihr Prophetenthum; sie hat ihre Ahnungen und An¬
schauungen, welche erst auf einer höheren Stufe ihre Berechti¬
gung und Erfüllung erlangt haben; es ist, wie der Apostel
sagt, der Schatten von dem, was zukünftig war.

Wenn ich aber versuche, der Alterthumskunde unter den
geschichtlichen Wissenschaften vorzugsweise den Beruf der Ver¬
mittelung zwischen den verschiedenen Studienfächern zuzueignen,
kann es nicht meine Ansicht sein, daß sie selbst in vornehmer
Abgeschlossenheit inmitten der Wissenschaften throne, den an¬
deren unentbehrlich, sich selbst genügend. Freilich hat sie, wie
jede Wissenschaft, ihre besondere Technik und Methode, deren
sorgsame Pflege eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist, weil sonst
Unordnung und Verwilderung eintritt. Aber daneben hat sie,
wie die andern Fächer, ja, ich darf wohl sagen, mehr als
alle andern das Bedürfniß eines lebendigen Verkehrs mit den
übrigen Zweigen der Gelehrsamkeit.

Denn zunächst, wenn die Philologie sein will, was ihr schö¬
ner Name aussagt, Liebe zum Logos, d. h. zu der im Worte
sich kundgebenden Thätigkeit des menschlichen Geistes, kann sie
dann gleichgültig bleiben gegen das Schöne und Bedeutende,
welches in späteren Jahrhunderten dem schöpferischen Menschen¬
geiste gelungen ist? Muß sie nicht streben, den Sinn für künst¬
lerischen Ausdruck des inneren Lebens durch Vergleichung der
schiedensten Leistungen aller Völker und Zeiten auszubilden,
und sind nicht in der That für Ilias und Odyssee die Nibe¬
lungen und Gudrunlieder ein Schlüssel des Verständnisses ge¬
worden, um die ihrer Entstehung nach geheimnißvollste aller
Dichtungsarten, das volksthümliche Epos, zu begreifen? Ja
die Philologie wird, indem sie die Klänge alter Zeit mit
ganzer Seele sich und der Gegenwart aneignet, unwillkürlich
zum Nachschaffen und Nachdichten angeregt. Sie muß also von
den Dichtern des eigenen Volks die Herrschaft der Sprache

Das Mittleramt der Philologie.

Alterthume erkennen wir die verſchiedenen Stufen einer reine¬
ren Anſchauung des Göttlichen, eines Abfalls zum Götzen¬
dienſte und der aus dem Götzendienſte zum unſichtbaren Gotte
zurückſtrebenden Sehnſucht edlerer Geiſter. Auch die klaſſiſche
Welt hat ihr Prophetenthum; ſie hat ihre Ahnungen und An¬
ſchauungen, welche erſt auf einer höheren Stufe ihre Berechti¬
gung und Erfüllung erlangt haben; es iſt, wie der Apoſtel
ſagt, der Schatten von dem, was zukünftig war.

Wenn ich aber verſuche, der Alterthumskunde unter den
geſchichtlichen Wiſſenſchaften vorzugsweiſe den Beruf der Ver¬
mittelung zwiſchen den verſchiedenen Studienfächern zuzueignen,
kann es nicht meine Anſicht ſein, daß ſie ſelbſt in vornehmer
Abgeſchloſſenheit inmitten der Wiſſenſchaften throne, den an¬
deren unentbehrlich, ſich ſelbſt genügend. Freilich hat ſie, wie
jede Wiſſenſchaft, ihre beſondere Technik und Methode, deren
ſorgſame Pflege eine ihrer wichtigſten Aufgaben iſt, weil ſonſt
Unordnung und Verwilderung eintritt. Aber daneben hat ſie,
wie die andern Fächer, ja, ich darf wohl ſagen, mehr als
alle andern das Bedürfniß eines lebendigen Verkehrs mit den
übrigen Zweigen der Gelehrſamkeit.

Denn zunächſt, wenn die Philologie ſein will, was ihr ſchö¬
ner Name ausſagt, Liebe zum Logos, d. h. zu der im Worte
ſich kundgebenden Thätigkeit des menſchlichen Geiſtes, kann ſie
dann gleichgültig bleiben gegen das Schöne und Bedeutende,
welches in ſpäteren Jahrhunderten dem ſchöpferiſchen Menſchen¬
geiſte gelungen iſt? Muß ſie nicht ſtreben, den Sinn für künſt¬
leriſchen Ausdruck des inneren Lebens durch Vergleichung der
ſchiedenſten Leiſtungen aller Völker und Zeiten auszubilden,
und ſind nicht in der That für Ilias und Odyſſee die Nibe¬
lungen und Gudrunlieder ein Schlüſſel des Verſtändniſſes ge¬
worden, um die ihrer Entſtehung nach geheimnißvollſte aller
Dichtungsarten, das volksthümliche Epos, zu begreifen? Ja
die Philologie wird, indem ſie die Klänge alter Zeit mit
ganzer Seele ſich und der Gegenwart aneignet, unwillkürlich
zum Nachſchaffen und Nachdichten angeregt. Sie muß alſo von
den Dichtern des eigenen Volks die Herrſchaft der Sprache

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[10/0026] Alterthume erkennen wir die verſchiedenen Stufen einer reine¬ ren Anſchauung des Göttlichen, eines Abfalls zum Götzen¬ dienſte und der aus dem Götzendienſte zum unſichtbaren Gotte zurückſtrebenden Sehnſucht edlerer Geiſter. Auch die klaſſiſche Welt hat ihr Prophetenthum; ſie hat ihre Ahnungen und An¬ ſchauungen, welche erſt auf einer höheren Stufe ihre Berechti¬ gung und Erfüllung erlangt haben; es iſt, wie der Apoſtel ſagt, der Schatten von dem, was zukünftig war. Wenn ich aber verſuche, der Alterthumskunde unter den geſchichtlichen Wiſſenſchaften vorzugsweiſe den Beruf der Ver¬ mittelung zwiſchen den verſchiedenen Studienfächern zuzueignen, kann es nicht meine Anſicht ſein, daß ſie ſelbſt in vornehmer Abgeſchloſſenheit inmitten der Wiſſenſchaften throne, den an¬ deren unentbehrlich, ſich ſelbſt genügend. Freilich hat ſie, wie jede Wiſſenſchaft, ihre beſondere Technik und Methode, deren ſorgſame Pflege eine ihrer wichtigſten Aufgaben iſt, weil ſonſt Unordnung und Verwilderung eintritt. Aber daneben hat ſie, wie die andern Fächer, ja, ich darf wohl ſagen, mehr als alle andern das Bedürfniß eines lebendigen Verkehrs mit den übrigen Zweigen der Gelehrſamkeit. Denn zunächſt, wenn die Philologie ſein will, was ihr ſchö¬ ner Name ausſagt, Liebe zum Logos, d. h. zu der im Worte ſich kundgebenden Thätigkeit des menſchlichen Geiſtes, kann ſie dann gleichgültig bleiben gegen das Schöne und Bedeutende, welches in ſpäteren Jahrhunderten dem ſchöpferiſchen Menſchen¬ geiſte gelungen iſt? Muß ſie nicht ſtreben, den Sinn für künſt¬ leriſchen Ausdruck des inneren Lebens durch Vergleichung der ſchiedenſten Leiſtungen aller Völker und Zeiten auszubilden, und ſind nicht in der That für Ilias und Odyſſee die Nibe¬ lungen und Gudrunlieder ein Schlüſſel des Verſtändniſſes ge¬ worden, um die ihrer Entſtehung nach geheimnißvollſte aller Dichtungsarten, das volksthümliche Epos, zu begreifen? Ja die Philologie wird, indem ſie die Klänge alter Zeit mit ganzer Seele ſich und der Gegenwart aneignet, unwillkürlich zum Nachſchaffen und Nachdichten angeregt. Sie muß alſo von den Dichtern des eigenen Volks die Herrſchaft der Sprache Das Mittleramt der Philologie.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/26>, abgerufen am 24.11.2024.