haften Zusammengehörigkeit, die gemeinsame Freude an dem unter göttlichem Schutz gedeihenden Staate.
Darum galt dieselbe Ansprache für Götter und Menschen, für Hohe und Niedrige, für Nahe und Ferne, für Lebende und Todte, in Krieg und Frieden, beim Kommen und Gehen.
Es war der freudige Zuruf, mit dem man beim Mahle nach der Sättigung mit Speise sich zum Wechselgespräche wen¬ dete. Es war der schriftliche Gruß im Briefe, mit dem man seit dem glorreichen Tage von Sphakteria auch die Staats¬ depeschen eröffnete. Mit dem Freudengruß auf der Lippe sank der Bote nieder, welcher die Kunde des marathonischen Siegs nach Athen brachte.
Auch das Leblose beseelte und belebte man durch Sinn¬ sprüche und Grüße; Becher und Geräthe, Pforten der Häuser und Städte, Hermen, Brunnen, Quellorte, Ruheplätze, Weg¬ weiser. Denn auch der Wanderer sollte sich auf einsamem Wege nicht verlassen fühlen, sondern eine freundliche Ansprache finden, ein Willkommen, eine wohlthuende Kundgebung leut¬ seliger und gastfreundlicher Gesinnung.
Vor Allem aber stattete man die Gräber mit Grüßen aus, weil man die Abgeschiedenen nicht in dem gewohnten Kreise bürgerlicher Gemeinschaft missen wollte, und ihnen galt der¬ selbe Gruß, welcher die Lebenden unter einander verband. Er wird auf Stein geschrieben wie ein Nachruf, welcher dem Vor¬ übergehenden in den Mund gelegt wird, und so werden die Gräberstraßen zu Wohnplätzen der Verstorbenen, welche mit den überlebenden Geschlechtern in stetigem Verkehr bleiben.
Wir sehen, welche Bedeutung das feinsinnige Volk der Hellenen dem Gruße gegeben hat, wie kennzeichnend derselbe für ihr sittliches und bürgerliches Verhalten gewesen ist.
Lange Zeit haben sie ihren Wahlspruch festgehalten und mit ihm die schöne Harmonie des Lebens, deren Ausdruck er war. Mit bewundernswürdiger Energie haben sie das Un¬ günstige fern zu halten, die Mißklänge zu überwinden und im Schönen zu leben verstanden. Als aber die Harmonie zerriß, verlor auch der Gruß der Freude seine nationale Bedeutung.
Der Gruß.
haften Zuſammengehörigkeit, die gemeinſame Freude an dem unter göttlichem Schutz gedeihenden Staate.
Darum galt dieſelbe Anſprache für Götter und Menſchen, für Hohe und Niedrige, für Nahe und Ferne, für Lebende und Todte, in Krieg und Frieden, beim Kommen und Gehen.
Es war der freudige Zuruf, mit dem man beim Mahle nach der Sättigung mit Speiſe ſich zum Wechſelgeſpräche wen¬ dete. Es war der ſchriftliche Gruß im Briefe, mit dem man ſeit dem glorreichen Tage von Sphakteria auch die Staats¬ depeſchen eröffnete. Mit dem Freudengruß auf der Lippe ſank der Bote nieder, welcher die Kunde des marathoniſchen Siegs nach Athen brachte.
Auch das Lebloſe beſeelte und belebte man durch Sinn¬ ſprüche und Grüße; Becher und Geräthe, Pforten der Häuſer und Städte, Hermen, Brunnen, Quellorte, Ruheplätze, Weg¬ weiſer. Denn auch der Wanderer ſollte ſich auf einſamem Wege nicht verlaſſen fühlen, ſondern eine freundliche Anſprache finden, ein Willkommen, eine wohlthuende Kundgebung leut¬ ſeliger und gaſtfreundlicher Geſinnung.
Vor Allem aber ſtattete man die Gräber mit Grüßen aus, weil man die Abgeſchiedenen nicht in dem gewohnten Kreiſe bürgerlicher Gemeinſchaft miſſen wollte, und ihnen galt der¬ ſelbe Gruß, welcher die Lebenden unter einander verband. Er wird auf Stein geſchrieben wie ein Nachruf, welcher dem Vor¬ übergehenden in den Mund gelegt wird, und ſo werden die Gräberſtraßen zu Wohnplätzen der Verſtorbenen, welche mit den überlebenden Geſchlechtern in ſtetigem Verkehr bleiben.
Wir ſehen, welche Bedeutung das feinſinnige Volk der Hellenen dem Gruße gegeben hat, wie kennzeichnend derſelbe für ihr ſittliches und bürgerliches Verhalten geweſen iſt.
Lange Zeit haben ſie ihren Wahlſpruch feſtgehalten und mit ihm die ſchöne Harmonie des Lebens, deren Ausdruck er war. Mit bewundernswürdiger Energie haben ſie das Un¬ günſtige fern zu halten, die Mißklänge zu überwinden und im Schönen zu leben verſtanden. Als aber die Harmonie zerriß, verlor auch der Gruß der Freude ſeine nationale Bedeutung.
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Der Gruß.
haften Zuſammengehörigkeit, die gemeinſame Freude an dem
unter göttlichem Schutz gedeihenden Staate.
Darum galt dieſelbe Anſprache für Götter und Menſchen,
für Hohe und Niedrige, für Nahe und Ferne, für Lebende
und Todte, in Krieg und Frieden, beim Kommen und Gehen.
Es war der freudige Zuruf, mit dem man beim Mahle
nach der Sättigung mit Speiſe ſich zum Wechſelgeſpräche wen¬
dete. Es war der ſchriftliche Gruß im Briefe, mit dem man
ſeit dem glorreichen Tage von Sphakteria auch die Staats¬
depeſchen eröffnete. Mit dem Freudengruß auf der Lippe ſank
der Bote nieder, welcher die Kunde des marathoniſchen Siegs
nach Athen brachte.
Auch das Lebloſe beſeelte und belebte man durch Sinn¬
ſprüche und Grüße; Becher und Geräthe, Pforten der Häuſer
und Städte, Hermen, Brunnen, Quellorte, Ruheplätze, Weg¬
weiſer. Denn auch der Wanderer ſollte ſich auf einſamem
Wege nicht verlaſſen fühlen, ſondern eine freundliche Anſprache
finden, ein Willkommen, eine wohlthuende Kundgebung leut¬
ſeliger und gaſtfreundlicher Geſinnung.
Vor Allem aber ſtattete man die Gräber mit Grüßen aus,
weil man die Abgeſchiedenen nicht in dem gewohnten Kreiſe
bürgerlicher Gemeinſchaft miſſen wollte, und ihnen galt der¬
ſelbe Gruß, welcher die Lebenden unter einander verband. Er
wird auf Stein geſchrieben wie ein Nachruf, welcher dem Vor¬
übergehenden in den Mund gelegt wird, und ſo werden die
Gräberſtraßen zu Wohnplätzen der Verſtorbenen, welche mit
den überlebenden Geſchlechtern in ſtetigem Verkehr bleiben.
Wir ſehen, welche Bedeutung das feinſinnige Volk der
Hellenen dem Gruße gegeben hat, wie kennzeichnend derſelbe
für ihr ſittliches und bürgerliches Verhalten geweſen iſt.
Lange Zeit haben ſie ihren Wahlſpruch feſtgehalten und
mit ihm die ſchöne Harmonie des Lebens, deren Ausdruck er
war. Mit bewundernswürdiger Energie haben ſie das Un¬
günſtige fern zu halten, die Mißklänge zu überwinden und im
Schönen zu leben verſtanden. Als aber die Harmonie zerriß,
verlor auch der Gruß der Freude ſeine nationale Bedeutung.
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/256>, abgerufen am 22.07.2024.
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