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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten.
erst nach ihrer Trennung von den Brudervölkern gewonnen
und ausgebildet haben. Da finden wir das menschliche Herz
im kindlichen Gespräch mit Gott, welchen es kennt als den,
welcher im Lichte wohnt und die Sünde haßt; da leuchtet das
Bild des Einen Gottes durch den Dunstkreis mythologischer
Vorstellungen, welche dasselbe umziehen und das einheitliche
Sonnenlicht in bunten Farbenbrechungen wiederstrahlen, kräftig
hindurch; da ist die Ewigkeit der Gottheit und alles dessen,
was aus ihr stammt, der feste Inhalt eines kindlichen Glaubens.

Aber kommen wir hier nicht schon auf den Gegensatz der
Inder und Hellenen, wie ihn vor kurzem ein deutscher Ge¬
lehrter, einer der geistvollsten Forscher auf dem Gebiete der
Veden, in seinem englischen Werke über die alte Sanskrit¬
litteratur ausgedrückt hat? Der Inder hat sein Auge nur für
die jenseitige Welt offen; die sichtbare ist ihm eine nichtige,
die unsichtbare die allein gewisse. Alles Einzelleben hat für
ihn nur Werth, so weit es an dem göttlichen Sein Antheil
hat. Darum ist er gleichgültig gegen Freude und Leid des
irdischen Lebens, durch welches er wie ein Fremder der Ewig¬
keit zuwandert; in sich zurückgezogen und ängstlich beflissen,
jede verunreinigende Gemeinschaft mit der sinnlichen Welt zu
vermeiden. Dem Griechen dagegen ist die irdische Wirk¬
lichkeit Alles; da ist ein energisches Heimathsgefühl, ein
unermüdlicher Trieb, sich in Gemeinde und Staat einzurichten
und das Leben hienieden in möglichster Vollkommenheit dar¬
zustellen. Das ganze innere Leben will sich in der Sichtbarkeit
ausdrücken, alle Stoffe werden herangezogen, um der künstleri¬
schen Werkthätigkeit dienstbar gemacht zu werden, und die ge¬
sammte Volksgeschichte bildet mit ihrem bunten Wechsel und
raschen Verlaufe einen vollständigen Gegensatz zu den gleich¬
förmigen Zuständen, in welchen die Inder Jahrhunderte träu¬
mend verlebt haben.

Dieser Gegensatz tritt uns am grellsten entgegen, wenn
wir die Griechen Homer's in das Auge fassen. Da sehen wir
tapfere, lebensfrohe Stämme, welche aus ihrer alten Heimath
verdrängt, eine neue sich gewinnen, ein herrliches Land, wo

Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
erſt nach ihrer Trennung von den Brudervölkern gewonnen
und ausgebildet haben. Da finden wir das menſchliche Herz
im kindlichen Geſpräch mit Gott, welchen es kennt als den,
welcher im Lichte wohnt und die Sünde haßt; da leuchtet das
Bild des Einen Gottes durch den Dunſtkreis mythologiſcher
Vorſtellungen, welche daſſelbe umziehen und das einheitliche
Sonnenlicht in bunten Farbenbrechungen wiederſtrahlen, kräftig
hindurch; da iſt die Ewigkeit der Gottheit und alles deſſen,
was aus ihr ſtammt, der feſte Inhalt eines kindlichen Glaubens.

Aber kommen wir hier nicht ſchon auf den Gegenſatz der
Inder und Hellenen, wie ihn vor kurzem ein deutſcher Ge¬
lehrter, einer der geiſtvollſten Forſcher auf dem Gebiete der
Veden, in ſeinem engliſchen Werke über die alte Sanskrit¬
litteratur ausgedrückt hat? Der Inder hat ſein Auge nur für
die jenſeitige Welt offen; die ſichtbare iſt ihm eine nichtige,
die unſichtbare die allein gewiſſe. Alles Einzelleben hat für
ihn nur Werth, ſo weit es an dem göttlichen Sein Antheil
hat. Darum iſt er gleichgültig gegen Freude und Leid des
irdiſchen Lebens, durch welches er wie ein Fremder der Ewig¬
keit zuwandert; in ſich zurückgezogen und ängſtlich befliſſen,
jede verunreinigende Gemeinſchaft mit der ſinnlichen Welt zu
vermeiden. Dem Griechen dagegen iſt die irdiſche Wirk¬
lichkeit Alles; da iſt ein energiſches Heimathsgefühl, ein
unermüdlicher Trieb, ſich in Gemeinde und Staat einzurichten
und das Leben hienieden in möglichſter Vollkommenheit dar¬
zuſtellen. Das ganze innere Leben will ſich in der Sichtbarkeit
ausdrücken, alle Stoffe werden herangezogen, um der künſtleri¬
ſchen Werkthätigkeit dienſtbar gemacht zu werden, und die ge¬
ſammte Volksgeſchichte bildet mit ihrem bunten Wechſel und
raſchen Verlaufe einen vollſtändigen Gegenſatz zu den gleich¬
förmigen Zuſtänden, in welchen die Inder Jahrhunderte träu¬
mend verlebt haben.

Dieſer Gegenſatz tritt uns am grellſten entgegen, wenn
wir die Griechen Homer's in das Auge faſſen. Da ſehen wir
tapfere, lebensfrohe Stämme, welche aus ihrer alten Heimath
verdrängt, eine neue ſich gewinnen, ein herrliches Land, wo

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[221/0237] Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. erſt nach ihrer Trennung von den Brudervölkern gewonnen und ausgebildet haben. Da finden wir das menſchliche Herz im kindlichen Geſpräch mit Gott, welchen es kennt als den, welcher im Lichte wohnt und die Sünde haßt; da leuchtet das Bild des Einen Gottes durch den Dunſtkreis mythologiſcher Vorſtellungen, welche daſſelbe umziehen und das einheitliche Sonnenlicht in bunten Farbenbrechungen wiederſtrahlen, kräftig hindurch; da iſt die Ewigkeit der Gottheit und alles deſſen, was aus ihr ſtammt, der feſte Inhalt eines kindlichen Glaubens. Aber kommen wir hier nicht ſchon auf den Gegenſatz der Inder und Hellenen, wie ihn vor kurzem ein deutſcher Ge¬ lehrter, einer der geiſtvollſten Forſcher auf dem Gebiete der Veden, in ſeinem engliſchen Werke über die alte Sanskrit¬ litteratur ausgedrückt hat? Der Inder hat ſein Auge nur für die jenſeitige Welt offen; die ſichtbare iſt ihm eine nichtige, die unſichtbare die allein gewiſſe. Alles Einzelleben hat für ihn nur Werth, ſo weit es an dem göttlichen Sein Antheil hat. Darum iſt er gleichgültig gegen Freude und Leid des irdiſchen Lebens, durch welches er wie ein Fremder der Ewig¬ keit zuwandert; in ſich zurückgezogen und ängſtlich befliſſen, jede verunreinigende Gemeinſchaft mit der ſinnlichen Welt zu vermeiden. Dem Griechen dagegen iſt die irdiſche Wirk¬ lichkeit Alles; da iſt ein energiſches Heimathsgefühl, ein unermüdlicher Trieb, ſich in Gemeinde und Staat einzurichten und das Leben hienieden in möglichſter Vollkommenheit dar¬ zuſtellen. Das ganze innere Leben will ſich in der Sichtbarkeit ausdrücken, alle Stoffe werden herangezogen, um der künſtleri¬ ſchen Werkthätigkeit dienſtbar gemacht zu werden, und die ge¬ ſammte Volksgeſchichte bildet mit ihrem bunten Wechſel und raſchen Verlaufe einen vollſtändigen Gegenſatz zu den gleich¬ förmigen Zuſtänden, in welchen die Inder Jahrhunderte träu¬ mend verlebt haben. Dieſer Gegenſatz tritt uns am grellſten entgegen, wenn wir die Griechen Homer's in das Auge faſſen. Da ſehen wir tapfere, lebensfrohe Stämme, welche aus ihrer alten Heimath verdrängt, eine neue ſich gewinnen, ein herrliches Land, wo

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/237>, abgerufen am 24.11.2024.