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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das Mittleramt der Philologie.
athmet, so ist auch seine Geschichte zu kennen unser nächstes
und tiefstes Bedürfniß. Die Beziehung zu ihm bleibt doch
auch in aller Naturbetrachtung das Ziel der Forschung; denn
jedes erkannte Naturgesetz ist doch nichts Anderes, als das
Durchbrechen einer Schranke, welche den Menschengeist hem¬
mend umgiebt, eine neue Verbindung und Versöhnung zwischen
der Masse des Stoffs und dem lebendigen Geiste, welcher aus
göttlichem Odem im Menschen lebt. Und so gewiß wie jeder
Einzelne ein Glied des großen Geschlechts ist und sich selbst
nur verstehen kann im Zusammenhange des Ganzen, so ist
das Zurückgehen in die Geschichte der Menschheit für Jeden
unter uns ein Besinnen auf sich selbst, ein Vertiefen des eige¬
nen Bewußtseins, eine Aneignung dessen, was von Rechts¬
wegen sein Eigenthum ist. In der geschichtlichen Forschung
entfaltet der Menschengeist seiue erfolgreichste Thätigkeit; er
vernichtet die Schranke, welche die kurze Spanne eines Einzel¬
lebens von dem Vorangegangenen trennt; er rettet aus der
Zeiten Fluth, was nicht für einen vorübergehenden Augenblick,
sondern für alle Jahrhunderte Bedeutung hat. Er begnügt
sich nicht, allgemeine Gesetze zu erkennen und den zerrissenen
Zusammenhang der Erinnerung wieder herzustellen, sondern
mit schöpferischer Kraft, welche zu der Forschung hinzutreten
muß, weiß er das Todte zu erwecken und das Verblichene mit
neuem Leben zu beseelen, so daß die edelsten Geister, welche
Spuren ihres Wirkens zurückgelassen haben, wie Zeitgenossen
um uns stehen und gleichsam in vertraulichem Wechselgespräche
mit uns verkehren.

Eine solche Geschichtsforschung kann keine isolirte Stellung
neben den anderen Wissenschaften einnehmen, sondern wie jedes
Studienfach seine nahe Beziehung zum Menschen und seiner
Geschichte hat, so kann auch der Historiker, wenn er sich nicht
mit Erzählung äußerlicher Begebenheiten begnügen will, seiner
hohen Aufgabe nicht genügen, ohne mit freiem Blicke das
ganze Menschenleben zu umfassen und so überall die Gebiete
der andern Wissenschaften, der Rechtswissenschaft, der Theo¬
logie, wie der Naturkunde zu berühren.

Das Mittleramt der Philologie.
athmet, ſo iſt auch ſeine Geſchichte zu kennen unſer nächſtes
und tiefſtes Bedürfniß. Die Beziehung zu ihm bleibt doch
auch in aller Naturbetrachtung das Ziel der Forſchung; denn
jedes erkannte Naturgeſetz iſt doch nichts Anderes, als das
Durchbrechen einer Schranke, welche den Menſchengeiſt hem¬
mend umgiebt, eine neue Verbindung und Verſöhnung zwiſchen
der Maſſe des Stoffs und dem lebendigen Geiſte, welcher aus
göttlichem Odem im Menſchen lebt. Und ſo gewiß wie jeder
Einzelne ein Glied des großen Geſchlechts iſt und ſich ſelbſt
nur verſtehen kann im Zuſammenhange des Ganzen, ſo iſt
das Zurückgehen in die Geſchichte der Menſchheit für Jeden
unter uns ein Beſinnen auf ſich ſelbſt, ein Vertiefen des eige¬
nen Bewußtſeins, eine Aneignung deſſen, was von Rechts¬
wegen ſein Eigenthum iſt. In der geſchichtlichen Forſchung
entfaltet der Menſchengeiſt ſeiue erfolgreichſte Thätigkeit; er
vernichtet die Schranke, welche die kurze Spanne eines Einzel¬
lebens von dem Vorangegangenen trennt; er rettet aus der
Zeiten Fluth, was nicht für einen vorübergehenden Augenblick,
ſondern für alle Jahrhunderte Bedeutung hat. Er begnügt
ſich nicht, allgemeine Geſetze zu erkennen und den zerriſſenen
Zuſammenhang der Erinnerung wieder herzuſtellen, ſondern
mit ſchöpferiſcher Kraft, welche zu der Forſchung hinzutreten
muß, weiß er das Todte zu erwecken und das Verblichene mit
neuem Leben zu beſeelen, ſo daß die edelſten Geiſter, welche
Spuren ihres Wirkens zurückgelaſſen haben, wie Zeitgenoſſen
um uns ſtehen und gleichſam in vertraulichem Wechſelgeſpräche
mit uns verkehren.

Eine ſolche Geſchichtsforſchung kann keine iſolirte Stellung
neben den anderen Wiſſenſchaften einnehmen, ſondern wie jedes
Studienfach ſeine nahe Beziehung zum Menſchen und ſeiner
Geſchichte hat, ſo kann auch der Hiſtoriker, wenn er ſich nicht
mit Erzählung äußerlicher Begebenheiten begnügen will, ſeiner
hohen Aufgabe nicht genügen, ohne mit freiem Blicke das
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[7/0023] Das Mittleramt der Philologie. athmet, ſo iſt auch ſeine Geſchichte zu kennen unſer nächſtes und tiefſtes Bedürfniß. Die Beziehung zu ihm bleibt doch auch in aller Naturbetrachtung das Ziel der Forſchung; denn jedes erkannte Naturgeſetz iſt doch nichts Anderes, als das Durchbrechen einer Schranke, welche den Menſchengeiſt hem¬ mend umgiebt, eine neue Verbindung und Verſöhnung zwiſchen der Maſſe des Stoffs und dem lebendigen Geiſte, welcher aus göttlichem Odem im Menſchen lebt. Und ſo gewiß wie jeder Einzelne ein Glied des großen Geſchlechts iſt und ſich ſelbſt nur verſtehen kann im Zuſammenhange des Ganzen, ſo iſt das Zurückgehen in die Geſchichte der Menſchheit für Jeden unter uns ein Beſinnen auf ſich ſelbſt, ein Vertiefen des eige¬ nen Bewußtſeins, eine Aneignung deſſen, was von Rechts¬ wegen ſein Eigenthum iſt. In der geſchichtlichen Forſchung entfaltet der Menſchengeiſt ſeiue erfolgreichſte Thätigkeit; er vernichtet die Schranke, welche die kurze Spanne eines Einzel¬ lebens von dem Vorangegangenen trennt; er rettet aus der Zeiten Fluth, was nicht für einen vorübergehenden Augenblick, ſondern für alle Jahrhunderte Bedeutung hat. Er begnügt ſich nicht, allgemeine Geſetze zu erkennen und den zerriſſenen Zuſammenhang der Erinnerung wieder herzuſtellen, ſondern mit ſchöpferiſcher Kraft, welche zu der Forſchung hinzutreten muß, weiß er das Todte zu erwecken und das Verblichene mit neuem Leben zu beſeelen, ſo daß die edelſten Geiſter, welche Spuren ihres Wirkens zurückgelaſſen haben, wie Zeitgenoſſen um uns ſtehen und gleichſam in vertraulichem Wechſelgeſpräche mit uns verkehren. Eine ſolche Geſchichtsforſchung kann keine iſolirte Stellung neben den anderen Wiſſenſchaften einnehmen, ſondern wie jedes Studienfach ſeine nahe Beziehung zum Menſchen und ſeiner Geſchichte hat, ſo kann auch der Hiſtoriker, wenn er ſich nicht mit Erzählung äußerlicher Begebenheiten begnügen will, ſeiner hohen Aufgabe nicht genügen, ohne mit freiem Blicke das ganze Menſchenleben zu umfaſſen und ſo überall die Gebiete der andern Wiſſenſchaften, der Rechtswiſſenſchaft, der Theo¬ logie, wie der Naturkunde zu berühren.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/23>, abgerufen am 28.11.2024.