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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Gastfreundschaft.
symbolisch ausgedrückt wurde. Wenn sich also verschiedene
Gaue oder Stämme mit einander verschmelzen wollten, so
mußten sie sich zuerst zu gegenseitiger Anerkennung ihrer Gott¬
heiten verständigen, wie Latiner und Sabiner in Rom sich
einigten, wie nach schweren Kämpfen Pallas und Poseidon
friedlich neben einander auf der Burg von Athen unter einem
Dache angesiedelt wurden. So ist auch hier durch Gastfreund¬
schaft eine heilsame Erweiterung des Gesichtskreises einge¬
treten; auch die Götter machen Freundschaft und jede Aus¬
söhnung von Götterzwist, jede Aufnahme jüngerer Gottheiten
bezeichnet eine neue Entwickelungsstufe der Stadtgeschichte,
einen Fortschritt im Zusammenwachsen der Stämme zum Volke.

Vorzugsweise ist es Apollon, der jüngste der Olympier,
welcher die Stämme sammelt, indem er ihre Götter einigt.
Er macht den Wirth bei den Theoxenien, dem Feste der Götter¬
freundschaft in Delphi, wo die Götter zu Gaste geladen bei
gemeinsamem Male zusammenkamen, die Besten des Volks um
sich versammelnd. Der Kreis der Olympier ist nur die Spie¬
gelung der durch gegenseitiges Gastrecht mit einander ver¬
schmolzenen Stämme und mit der Zwölfzahl wurde im Himmel
wie auf Erden der Kreis der Berechtigten abgeschlossen.

Der Götterkanon war eine politische Schöpfung, ein Denk¬
mal des Siegs des nationalen Geistes über den cantonalen
Particularismus. Er erhielt sich in Ehren, so lange der na¬
tionale Geist stark genug war, ihn zu tragen. Mit dem Ein¬
brechen des Kosmopolitismus war auch dieser Abschluß nicht
mehr zu halten. Die Nationen verloren das Vertrauen wie
zu sich, so auch zu ihren Göttern, und im Gefühle des Ban¬
kerotts machte man Anleihen beim Auslande; des Morgen¬
landes Götter verdrängten die einheimischen; Isis, Serapis
und Mithras regierten anstatt der Olympier, und zuletzt fanden
unter anderen heiligen Gestalten, mit denen man es einmal
versuchen wollte, Abraham und Christus gastliche Aufnahme
in der Hauskapelle der Cäsaren.

So ist das Gastrecht mit den wichtigsten Entwickelungen
der antiken Menschheit verbunden; seine Geschichte ist eine

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Die Gaſtfreundſchaft.
ſymboliſch ausgedrückt wurde. Wenn ſich alſo verſchiedene
Gaue oder Stämme mit einander verſchmelzen wollten, ſo
mußten ſie ſich zuerſt zu gegenſeitiger Anerkennung ihrer Gott¬
heiten verſtändigen, wie Latiner und Sabiner in Rom ſich
einigten, wie nach ſchweren Kämpfen Pallas und Poſeidon
friedlich neben einander auf der Burg von Athen unter einem
Dache angeſiedelt wurden. So iſt auch hier durch Gaſtfreund¬
ſchaft eine heilſame Erweiterung des Geſichtskreiſes einge¬
treten; auch die Götter machen Freundſchaft und jede Aus¬
ſöhnung von Götterzwiſt, jede Aufnahme jüngerer Gottheiten
bezeichnet eine neue Entwickelungsſtufe der Stadtgeſchichte,
einen Fortſchritt im Zuſammenwachſen der Stämme zum Volke.

Vorzugsweiſe iſt es Apollon, der jüngſte der Olympier,
welcher die Stämme ſammelt, indem er ihre Götter einigt.
Er macht den Wirth bei den Theoxenien, dem Feſte der Götter¬
freundſchaft in Delphi, wo die Götter zu Gaſte geladen bei
gemeinſamem Male zuſammenkamen, die Beſten des Volks um
ſich verſammelnd. Der Kreis der Olympier iſt nur die Spie¬
gelung der durch gegenſeitiges Gaſtrecht mit einander ver¬
ſchmolzenen Stämme und mit der Zwölfzahl wurde im Himmel
wie auf Erden der Kreis der Berechtigten abgeſchloſſen.

Der Götterkanon war eine politiſche Schöpfung, ein Denk¬
mal des Siegs des nationalen Geiſtes über den cantonalen
Particularismus. Er erhielt ſich in Ehren, ſo lange der na¬
tionale Geiſt ſtark genug war, ihn zu tragen. Mit dem Ein¬
brechen des Kosmopolitismus war auch dieſer Abſchluß nicht
mehr zu halten. Die Nationen verloren das Vertrauen wie
zu ſich, ſo auch zu ihren Göttern, und im Gefühle des Ban¬
kerotts machte man Anleihen beim Auslande; des Morgen¬
landes Götter verdrängten die einheimiſchen; Iſis, Serapis
und Mithras regierten anſtatt der Olympier, und zuletzt fanden
unter anderen heiligen Geſtalten, mit denen man es einmal
verſuchen wollte, Abraham und Chriſtus gaſtliche Aufnahme
in der Hauskapelle der Cäſaren.

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der antiken Menſchheit verbunden; ſeine Geſchichte iſt eine

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[211/0227] Die Gaſtfreundſchaft. ſymboliſch ausgedrückt wurde. Wenn ſich alſo verſchiedene Gaue oder Stämme mit einander verſchmelzen wollten, ſo mußten ſie ſich zuerſt zu gegenſeitiger Anerkennung ihrer Gott¬ heiten verſtändigen, wie Latiner und Sabiner in Rom ſich einigten, wie nach ſchweren Kämpfen Pallas und Poſeidon friedlich neben einander auf der Burg von Athen unter einem Dache angeſiedelt wurden. So iſt auch hier durch Gaſtfreund¬ ſchaft eine heilſame Erweiterung des Geſichtskreiſes einge¬ treten; auch die Götter machen Freundſchaft und jede Aus¬ ſöhnung von Götterzwiſt, jede Aufnahme jüngerer Gottheiten bezeichnet eine neue Entwickelungsſtufe der Stadtgeſchichte, einen Fortſchritt im Zuſammenwachſen der Stämme zum Volke. Vorzugsweiſe iſt es Apollon, der jüngſte der Olympier, welcher die Stämme ſammelt, indem er ihre Götter einigt. Er macht den Wirth bei den Theoxenien, dem Feſte der Götter¬ freundſchaft in Delphi, wo die Götter zu Gaſte geladen bei gemeinſamem Male zuſammenkamen, die Beſten des Volks um ſich verſammelnd. Der Kreis der Olympier iſt nur die Spie¬ gelung der durch gegenſeitiges Gaſtrecht mit einander ver¬ ſchmolzenen Stämme und mit der Zwölfzahl wurde im Himmel wie auf Erden der Kreis der Berechtigten abgeſchloſſen. Der Götterkanon war eine politiſche Schöpfung, ein Denk¬ mal des Siegs des nationalen Geiſtes über den cantonalen Particularismus. Er erhielt ſich in Ehren, ſo lange der na¬ tionale Geiſt ſtark genug war, ihn zu tragen. Mit dem Ein¬ brechen des Kosmopolitismus war auch dieſer Abſchluß nicht mehr zu halten. Die Nationen verloren das Vertrauen wie zu ſich, ſo auch zu ihren Göttern, und im Gefühle des Ban¬ kerotts machte man Anleihen beim Auslande; des Morgen¬ landes Götter verdrängten die einheimiſchen; Iſis, Serapis und Mithras regierten anſtatt der Olympier, und zuletzt fanden unter anderen heiligen Geſtalten, mit denen man es einmal verſuchen wollte, Abraham und Chriſtus gaſtliche Aufnahme in der Hauskapelle der Cäſaren. So iſt das Gaſtrecht mit den wichtigſten Entwickelungen der antiken Menſchheit verbunden; ſeine Geſchichte iſt eine 14 *

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/227>, abgerufen am 24.11.2024.